»Wo steht, dass ich verpflichtet bin, mit einem Smartphone zu leben?«
Der Siegeszug von Internet, Smartphone und Apps scheint ungebrochen. Aber nicht alle sind damit glücklich, nicht alle können sich im digitalen Leben orientieren. Gibt es ein Recht auf ein analoges Leben – und wie kann es gewährleistet werden?
Wer heute eine Jahreszahl vergessen hat, eine Umrechnungsformel braucht oder einen Weg sucht, braucht keinen (fast) allwissenden Großvater mehr, wie ihn der britische Journalist Daniel Finkelstein in seiner liebevollen Familiengeschichte beschreibt: „Als Dad gestorben war, sagte einer seiner Enkel: In Zukunft müssen wir Google fragen.“Zumindest auf dieses Szenario sind die Österreicher vorbereitet : Knapp 95 Prozent aller Einwohner von 16 bis 74 Jahren haben nach der jüngsten Erhebung der Statistik Austria Zugang zum Internet. „Die Nutzung digitaler Technologien gehört zu den modernen Schlüsselkompetenzen“, sagt Statistikchef Tobias Thomas.
Und das ist etwas, was auch weitere Zahlen bestätigen. Rund 90 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger in Österreich nutzen heute ein Smartphone, wie die Bundesregierung festhält. Damit suchen sie nicht nur Auskunft bei Dr. Google, sondern kaufen online alles von Bahntickets bis Kleidung, studieren im Restaurant mittels QR-Code die Speisekarte, ehe sie die Zeche schließlich damit begleichen. Längst aber dient das Smartphone nicht mehr nur Konsum und Freizeit: In der Altersgruppe von 16 bis 74 Jahren erledigten im Vorjahr bereits 76 Prozent der Bürger ihre Behördenwege elektronisch.
Das ist ganz im Sinne der Regierung: „Mein Ziel ist es, die Verwaltung durch Digitalisierung zu vereinfachen und dorthin zu bringen, wo die Menschen sind, und das ist das Smartphone“, sagt Staatssekretär Florian Tursky der „Presse am Sonntag“. Mit dem elektronischen Identitätsnachweis ID Austria, der seit Dezember zur Verfügung steht, lassen sich digital 200 Amtswege erledigen und 475 Behördenleistungen in Anspruch nehmen, preist der Staatssekretär die Vorteile der Digitalisierung.
Doch keineswegs alle sind davon begeistert. Zwar gebe es unbestrittene
Vorteile, wenn sich Menschen durch elektronischen Zugang beschwerliche Amtswege ersparen könnten, meint etwa Daniela Zimmer, die Konsumentenschutzexpertin der Arbeiterkammer (AK). Sie warnt aber auch: „Natürlich gibt es ein Drängen vonseiten des Staates in Richtung Digitalisierung und Effizienzsteigerung.“Obwohl Tursky im Namen der Regierung verspricht: „Alles, was wir digital anbieten, wird weiterhin auch analog möglich sein“, bleibt Zimmer skeptisch: „Je kleiner die Gruppe der analogen Nutzer wird, desto schmäler wird das Angebot werden.“
Nachfrage nach digitalen Kursen.
Davon ist besonders die Gruppe der Senioren betroffen. Die Präsidentin des Seniorenbunds, Ingrid Korosec, ist daher nicht von der Zusicherung ihres ÖVPParteifreunds Tursky überzeugt. Zwar sei sie „ein Fan der Digitalisierung, und ich sehe sie als Tor zur Welt, gerade auch für Seniorinnen und Senioren“. Aber: „Wenn uns Wirtschaft und Politik von der Digitalisierung zunehmend abhängig machen, müssen sie auch dafür Sorge tragen, dass jeder durch dieses Tor schreiten kann. Das sehe ich derzeit nicht.“
Am Bürgerwillen liegt es dabei offenbar nicht : „Die Nachfrage nach digitalen Kursen ist riesengroß, nicht nur unter Senioren“, berichtet Edith Simöl, Leiterin von Digitale Senior:innen, einem gemeinnützigen Verein zur Ausbildung digitaler Trainer in Wien. Sie meint: „Wenn der Staat eine so maßgebliche Sache wie die ID Austria einführt, soll er den Bürgern auch sagen, wo sie die notwendigen Fähigkeiten erlernen können.“
Zwischen der Verbreitung der Digitalisierung und Kenntnissen klafft nämlich eine beträchtliche Lücke. Nach Angaben der Statistik Austria haben 63 Prozent der 16- bis 74-jährigen Bevölkerung in Österreich zumindest grundlegende Kenntnisse. Im EUDurchschnitt sind es nur 54 Prozent. Valentina Kropfreiter von der Statistik Austria erklärt: „Kommunizieren mit digitalen Geräten können fast alle.“Höhere Kenntnisse bis hin zum Programmieren hat hingegen nur eine wesentlich kleinere Gruppe.
Die Vermittlung grundlegender und tieferer Kenntnisse bieten zahlreiche Initiativen im ganzen Land. In Oberösterreich leistet die Trainerin Astrid Gaisberger im Rahmen des Katholischen Bildungswerks über den Verein SelbA (Selbständig und Aktiv) Unterstützung. Dabei geht es oft nicht nur um technische Fertigkeiten: „Wir helfen jenen, die Angst vor dem Digitalen haben, und zeigen ihnen, wie man damit umgehen kann.“Die Coronapandemie habe einen klaren Einschnitt gebracht : „Menschen, die vernetzt waren, waren viel weniger von Einsamkeit betroffen als Menschen, die nur analog kommunizieren konnten.“
E-Mails schreiben, Nachrichten austauschen über WhatsApp und das Verschicken von Fotos seien die am meisten nachgefragten Fähigkeiten: „Über das Zuckerl ,Ich kann mit meinen Enkelkindern kommunizieren‘ sind sehr viele Leute, die zuvor große Bedenken hatten, empfänglich“, sagt Gaisberger. Doch sie hat auch die Erfahrung gemacht: „Männer gehen lieber an den Stammtisch, Frauen gehen eher in Kurse.“Was liege also näher, als einen Digital-Stammtisch anzubieten?
Mittel gegen Vereinsamung. Diesen Weg schlug 2017 der pensionierte EDV-Experte Peter Ziereis mit der Juristin Eileen Eggeling in Grödig bei Salzburg ein, wo sie seither einen „Digitalen Senior:innen Stammtisch“leiten. Ziereis: „Ich bin so oft privat um Rat gefragt worden, dass ich mir gedacht habe, dass ich besser einen Kurs organisiere.“Die hohe Nachfrage sei nicht nur auf technischen Wissensdurst zurückzuführen: „Ganz klar ist die Digitalisierung ein Mittel gegen die Vereinsamung.“
Die Kursteilnehmer landauf und landab sind heterogen. Simöl unterscheidet drei Gruppen: „Es gibt diejenigen, die sagen, ich bin so alt, ich brauche das alles nicht mehr. Dann die zweiten, die sagen: ,Ich weiß nicht, ob ich das noch lernen werde‘, die aber schon ahnen, dass es ganz gut für sie wäre. Und dann haben wir jene, die wissen, dass sie ohne digitale Kenntnisse Nachteile haben und deshalb sehr eifrig lernen.“In einigen Fällen aber, erzählt Ziereis, „müssen wir selbst mit einfühlsamer Psychologie die Segel streichen. Da müssen wir zugeben: Das wird nichts.“
Was die Zahlen der Internetverbreitung betrifft, liegt Österreich über dem EU-Durchschnitt : 2021 lag sie bei 89 Prozent. An der Spitze befanden sich nach Angaben von Statistik Austria und Eurostat Irland und Dänemark mit 99 Prozent, knapp gefolgt von Finnland, Schweden und den Niederlanden sowie Österreich. Ob Österreich eines Tages eine hundertprozentige Digitalisierung erreichen wird? „Nicht, solang meine Mutter lebt“, scherzt Simöl.
Die Zahl der Internetnutzer ist hierzulande stark abhängig von Alter und Bildung: Während der Wert für Männer und Frauen von 16 bis 54 Jahren zwischen 98,4 und 100 Prozent liegt, sinkt er danach merklich und zeigt eine wachsende Geschlechterdifferenz: Unter den 65- bis 74-Jährigen nützten in den vergangenen zwölf Monaten 84,1 Prozent der Männer, aber nur mehr 76,5 Prozent der Frauen das Internet.
»Mir geht es darum, das Kulturgut des Einkaufs hervorzuheben und Kommunikation herzustellen.«
Knapp 95 Prozent aller Bewohner von 16 bis 74 Jahren haben Zugang zum Internet.
Kaufkräftiges Publikum. Mit den Senioren haben Marketingexperten (Stichwort: „Best Ager“) längst ein besonders kaufkräftiges Publikum ausfindig gemacht. Im Online-Shopping liegen „Digital Immigrants“(Personen, die erst als Erwachsene digitale Technologien kennengelernt haben) mit den „Digital Natives“(Personen, die mit digitaler Technologie aufgewachsen sind) oft schon gleichauf. Der demografische Wandel mit steigender Lebenserwartung „hat auch immense Auswirkungen auf das Konsumverhalten und -gewohnheiten“, so das Beratungsunternehmen PWC.
Unter Erwerbstätigen waren nach der letzten Erhebung der Statistik Austria 99,2 Prozent im Internet, unter Pensionisten dagegen nur 84,0 Prozent. Nach Bildungsgrad ist die Durchdringung mit 99,4 Prozent in den obersten Klassen fast vollständig, während sie im Primär- und Sekundarbereich bei 88,2 Prozent liegt. Doch Bildung allein ist kein Garant für eine positive Annahme der Digitalisierung: „Meine Frau ist Akademikerin, aber einen Computer rührt sie nicht an“, berichtet der Pensionist Wilfried Brandlhofer.
Der 77-Jährige meint: „In manchen Bereichen ist die Digitalisierung sicher nützlich, aber man soll die Leute nicht zwingen.“Seine tägli
»Alles, was wir digital anbieten, wird weiterhin auch analog möglich sein.« FLORIAN TURSKY Staatssekretär
che Ausgabe der „Presse“lese er immer noch jeden Morgen nach dem Frühstück auf Papier, „so wie ich das seit Studententagen mache“, doch Leserbriefe schreibe er mittlerweile lieber per EMail: „Da weiß man sofort, dass der Empfänger die Nachricht erhalten hat. Bei der Post kann man sich da nie so sicher sein.“
Manche aber entscheiden sich bewusst für ein Leben ohne digital, zumindest in jenen Nischen, wo das noch möglich ist. Christian Jauernik betreibt seit sieben Jahren in der Wiener Kettenbrückengasse den Laden Besen und Spaghetti, den er nach dem Credo führt: „Ich verkaufe ausschließlich Dinge, die ich selbst mag.“Hier findet man Kehrwerkzeug aller Art vom Buchrückenbesen bis zum Steckdosenbesen, denn: „Ich liebe das Besenbindergewerbe“, so Jauernik. Daneben gibt es aber auch „die beste Pasta der Welt“, eingelegte Paradeiser aus Apulien, Dosenfisch aus Marseille, Oliven aus Nizza, Gläser aus Indien, Gin aus Kärnten und auch Email-Geschirr aus der Ukraine: „Sie liefern trotz des Kriegs.“
Im Online-Shopping liegen »Digital Immigrants« mit den »Digital Natives« oft schon gleichauf.
All diesen Waren gemeinsam ist, dass man sie im Geschäft sehen, angreifen und sinnlich erfassen kann. Eigentlich das reguläre Geschäftsmodell des analogen Einkaufens, doch heute muss gesondert darauf aufmerksam gemacht werden. Jauernik sagt: „Ich kenne viele Junge, die zu mir kommen, weil sie das sinnliche Erlebnis meiner Waren lieben.“Er kennt seine Lieferanten und kann höchste Produktions- und Wertestandards garantieren. „Bei mir gibt es keinen Online-Shop“, sagt Jauernik, der früher im Kunstgewerbe und in der Unternehmensberatung tätig war. „Mir geht es darum, das Kulturgut des Einkaufs hervorzuheben und Kommunikation herzustellen. “
Eine seiner Kundinnen, die Architektin Sylvia Fracaro, sagt: „Die Produkte anfassen, die Materialität spüren, sich über den Einkauf austauschen – das alles kann das Internet nicht bieten.“Dem stimmt Jauernik freilich zu: „Wir arbeiten nicht mit Excel-Tabellen, sondern mit Emotionalität.“Das funktioniert offenbar. Fracaro sagt auch: „Ich habe hier schon vieles gekauft, von dem ich gar nicht wusste, dass ich es brauche.“
Die starke Reaktion „von Vorarlberg bis Burgenland und aus allen Altersgruppen und Bildungsschichten“auf sein Konzept hat Jauernik nun dazu bewegt, neben seinem Laden auch den Verein Analoges Einkaufen ins Leben zu rufen. Sein Programm ist eine radikale Abkehr vom Online-Handel, wie ihn etwa der US-Riese Amazon weltweit durchgesetzt hat: „Die Amazonisierung bedeutet, dass soziale Kontakte weniger werden, sinnvolle Entscheidungen – was und wie viel konsumiert wird – wegfallen (,Ich kann es ja eh zurückschicken‘) und damit der unnötige Konsum steigt“, heißt es in Jauerniks Manifest.
Kann man aus diesen Ausflügen aus der Digitalisierung schließen, dass es ein Recht auf ein analoges Leben gibt? Im November 2023 tagte in Wien unter Schirmherrschaft des Sozialministeriums eine internationale Konferenz über die Menschenrechte von Senioren, die eine Resolution erließ, in der nicht nur der „gleichberechtigte
Radikale Abkehr von Online-Handel.
Zugang zu digitalen Hilfsmitteln“gefordert wird, sondern auch die Bereitstellung von „brauchbaren Offline-Angeboten und anderen Alternativen“. Edith Simöl von Digitale Senior:innen meint: „Solang der Staat nicht sagt, die digitale Grundausrüstung bekommt man wie eine Sozialversicherungsnummer, muss er auch alle Wege parallel offenhalten.“
»In manchen Bereichen ist die Digitalisierung nützlich, aber man soll die Leute nicht zwingen.«
Der frühere ORF-Moderator Reinhard Jesionek, der sich über die Plattform Fit4Internet für die Vermittlung digitaler Kenntnisse engagierte, „gerade weil ich ein Skeptiker bin“, sagt: „Wo steht geschrieben, dass ich verpflichtet bin, mit einem Smartphone zu leben?“Daniela Zimmer von der AK meint: „Das Recht auf ein analoges Leben ist ein gesellschaftliches Thema, um das man ringen muss. Man muss all jenen Rechnung tragen, die analog bleiben wollen. Digitalaffine werden sowieso ihren Weg machen. Aber man muss Rücksicht nehmen auf jene, die dem Digitalen skeptisch gegenüberstehen.“
Der Unternehmer Markus Nutz, der mit seiner Firma Spinnwerk sein Geld im Digitalmarketing macht, meint : „Das Recht auf ein analoges Leben muss es geben, selbst wenn es wirtschaftlich Nachteile bringt. Solang es jemand will, muss es die Möglichkeit dazu geben.“
Das sahen möglicherweise auch Wegbereiter der Digitalisierung nicht anders. Apple-Chef Steve Jobs verbot seinen Kindern die Benutzung von iPhone und iPad. Sein Biograf Walter Isaacson berichtet: „Steve legte extremen Wert darauf, jeden Abend mit seiner Familie am langen Tisch in der Küche zu sitzen und Bücher, Geschichte oder andere Dinge zu besprechen.“Mehr analog geht wohl nicht.