Den Mantel lüften?
Über den Erdmantel wissen wir weniger als über den Mond, auch der letzte Bohrversuch erreichte ihn nicht. Aber er könnte klären, ob das Leben dort entstand.
Im Radio hören wir Gerüchte, die in den nervöseren Zeitungen herumfliegen: Wir werden verdächtigt 1) nach Diamanten zu schürfen, 2) nach Stützpunkten für Raketen zu suchen, 3) versunkene Schätze zu suchen. Sie haben uns noch nicht mit Sex in Verbindung gebracht, aber sie werden es tun.“Das schrieb John Steinbeck, der Meeresbiologie studiert hatte, bevor er sich der Schriftstellerei zuwandte, im April 1961 im „Life Magazine“. Er war auf dem Forschungsschiff Cuss I, das mit Diamanten nur insofern zu tun hatte, als es industriell hergestellte verbrauchte, und mit Schätzen nur so viel, wie der Name des Schiffs verriet, in dem die Initialen von Erdölfirmen steckten (Continental, Union, Superior, Shell): Konstruiert war das Schiff für die ersten Ölbohrungen im Meer, an den Spitzen der Bohrköpfe saßen die Diamanten.
Aber hinter Öl war die Besatzung nicht her, sie wollte vordringen in die Terra incognita unter unseren Füßen, den Mantel der Erde, der zwar 84 Prozent ihres Volumens und 67 Prozent ihrer Masse ausmacht, über den aber weniger bekannt war „als über den Mond“, wie Steinbeck bedauerte.
Dass es ihn gab, wusste man seit 1909, als der kroatische Geologe Andrija Mohorovičić bemerkte, dass Wellen eines Erdbebens in einer Tiefe von 50 Kilometern ihre Geschwindigkeit änderten, dort musste die oben liegende Erdkruste aufhören und etwas anderes beginnen, man nannte den Grenzbereich nach ihm bzw. kurz Moho, aber einen Zugang gab es nicht, das Hinabsteigen zum Mittelpunkt der Erde durch einen erloschenen Vulkan blieb der Fantasie Jules Vernes überlassen.
Denn wenn die Kruste die Erde auch nur als hauchdünne Schicht umzieht – sie stellt 0,4 Prozent ihrer Masse –, so ist sie doch unter den Kontinenten 50 Kilometer mächtig, unter den Ozeanen fünf bis zehn. Am Land ist kein Durchkommen zum Mantel, die tiefste Bohrung ging 1989 auf der Halbinsel Kola in Russland auf 12,662 Meter – bis heute garniert mit dem Mythos, man habe „die Hölle angebohrt“und „Schreie von Tausenden gequälten Seelen“vernommen –, das tiefste noch offene Loch bei Nürnberg geht auf 9101 Meter.
Bleibt das Meer. Aber dort ist der Mantel heiß, und das Meer ist bewegt, beides macht das Bohren aufwendig, was zunächst kein Problem war: Der Wettlauf der USA mit der Sowjetunion ging nicht nur zum hohen Mond, sondern auch in die Tiefe der Erde. Die Cuss versuchte es vor der Küste Mexikos, Steinbeck verglich die Mission mit der des Kolumbus, aber sie kam ganze 183 Meter in den Meeresboden, 179 davon waren Sediment, die restlichen vier kratzten nicht einmal am Mantel, das Unternehmen wurde zwar als Erfolg gefeiert, war aber gescheitert (und wurde bald aus Geldmangel abgebrochen).
Zäh wie Teer. Blieb zunächst nur, was man mit anderen Methoden über den Mantel lernen konnte, mit seismischen Messungen vor allem, Modellrechnungen und Analysen aufgestiegener Gesteine: Die des Mantels gehören überwiegend zur breiten Gruppe der Periodite – das sind vor allem Eisenund Magnesiumsilikate wie Olivin –, sie sind trotz Temperaturen von bis zu 3500 Grad nicht geschmolzen, sondern der enormen Drücke wegen zäh wie Teer, bewegen sich nur langsam, treiben aber die Plattentektonik mit an.
Der Mantel ist auch nicht überall gleich dicht, seismische Messungen in den 1980er-Jahren zeigten unter Afrika und dem Pazifik Anomalien von der doppelten Größe des Monds. Mit dem haben sie wohl auch zu tun bzw. mit seiner Entstehung, das ist der bislang letzte Befund: Der Mond wurde von einem Himmelskörper aus der Erde herausgeschlagen, dabei blieben Teile von ihm in ihr, sie bilden die Anomalien Qian Yuang (Arizona State University) hat es aus Einschlagssimulationen heraus elesen (Nature 632, S. 95).
All das sind indirekte Einblicke, Klarheit über die tiefe Geschichte der Erde könnte nur der Mantel selbst bringen. Aber der ist bis heute unerreicht: Zwar gab es immer neue Anläufe, zuletzt mit dem Forschungsschiff Joides Resolution an einer Stelle, wo die Kruste besonders dünn ist, Lost City, Teil eines Vulkangebirges im Atlantik, es liegt 1445 Meter unter dem Meeresspiegel. Dann müsste man noch durch 3000 Meter Gestein. Die schaffte auch die letzte Expedition im Sommer 2023 nicht, immerhin kam man auf 1267,8 Metern in eine Mischung aus Kruste und Mantel, es wurde breit gefeiert, man habe „unglaublich wichtige Daten für viele Generationen“(Science 360, S. 867).
Darauf setzt Susan Lang (Woods Hole). Sie sucht im Erdmantel etwas ganz Besonderes, den Ursprung des Lebens. Dass es das in ihm gibt, weiß man aus einer der wenigen Stellen, wo ein Stück an die Oberfläche kam und dort abgeschlossen liegt, im Oman: In ihm hat Alexis Templeton (University of Colorado) Bakterien gefunden, die ihre Energie daraus ziehen, dass sie mit Elektronen aus Wasserstoff Sulfate zu Sulfiden reduzieren (bzw. zu Schwefelwasserstoff). Der Wasserstoff entsteht geogen, durch Serpentisierung: Wenn das Gestein, eisenhaltiges Olivin, mit Wasser in Berührung kommt, entreißt es ihm zur Oxidierung des Eisens Sauerstoff, am Wasserstoff können die Bakterien sich bedienen (Geochimica and Cosmochimica Acta 179, S.217).
Dass es den Erdmantel gibt, weiß man aus seismischen Messungen und aufgestiegenem Gestein.
Im Erdmantel gibt es Leben, und ob es auch dort entstanden ist, soll sich nun zeigen.
Sie können also im Mantel leben, aber: Sind sie von irgendwo hineingekommen oder in ihm entstanden, ist es das Leben überhaupt: Ist Chemie dort umgeschlagen in Biologie? Der Frage geht William Martin vom Institut für Molekulare Evolution der Uni Düsseldorf seit Jahren nach: Bakterien im Mantelgestein können aus dem Wasserstoff und Kohlendioxid (CO2) einfache organische Verbindungen wie Acetate und Ameisensäure bilden und daraus ihr gesamtes organisches Material.
Exakt das Gleiche können auch Mineralien in diesem Gestein, sie lassen diese Bausteine des Lebens entstehen. So war das zumindest im kleinen Labor in Düsseldorf (Nature Ecology & Evolution 4, S. 534). War es so auch im großen Labor der Natur? Lang will es an den Bohrkernen aus Lost City klären (Quanta Magazine 4. 1.), es wird Jahre dauern und lang die einzige Chance bleiben: Ende 2024 wird die Joides Resolution außer Dienst gestellt, dann gibt es erdweit nur noch ein Forschungsschiff, die japanische Chikuju, aber die wird für anderes gebraucht, und die neue chinesische Mengxiang muss erst einmal Erfahrungen sammeln.