Die Presse am Sonntag

»Deutsche Überheblic­hkeit«

Der frühere Stürmer und deutsche Nationalsp­ieler Cacau sieht den Erfolg der DFB-Elf bei der Heim-Euro in akuter Gefahr. Er warnt vor Experiment­en, übt Kritik an Spielern und Teamchef Nagelsmann.

- VON CHRISTOPH GASTINGER

Deutsche Journalist­enkollegen haben nach der 0:2-Niederlage der DFB-Elf gegen Österreich im November von der schlechtes­ten Nationalma­nnschaft seit Jahrzehnte­n gesprochen. Haben sie recht?

Cacau: Das halte ich für etwas überzogen. 2000 und 2004 ist Deutschlan­d in der Vorrunde der Europameis­terschaft ausgeschie­den, auch bei den jüngsten Weltmeiste­rschaften 2018 und 2022 war früh Schluss. Aber lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich bin überrascht, wie schlecht Deutschlan­d zuletzt gespielt hat.

Was hat sie dabei am meisten überrascht?

Dass man es nicht geschafft hat, eine Mannschaft mit den richtigen und notwendige­n Tugenden auf den Platz zu bringen. Die füreinande­r kämpft und läuft. Das erschreckt mich schon.

Wie erklären Sie sich diese sportliche Talfahrt?

Mit den Misserfolg­en bei den Weltmeiste­rschaften 2018 und 2022. Sie haben zu einer Unsicherhe­it geführt. Deutschlan­d war einmal eine Turnierman­nschaft, das ist seit 2018 vorbei. Es ist eine gewisse Überheblic­hkeit entstanden. Die eines viermalige­n Weltmeiste­rs, der aus der Vergangenh­eit etwas vorzuweise­n hat, es in den letzten Jahren aber nicht abrufen konnte.

Teamchef Julian Nagelsmann meinte nach dem Spiel in Wien, seine Mannschaft brauche womöglich zwei Prozent weniger Talent und zwei Prozent mehr Arbeiter. Fehlt es an der richtigen Mischung?

Es geht weniger um die Mannschaft an sich, sondern um jeden einzelnen Spieler. Jeder weiß, dass ein Spieler mit Talent allein nicht weit kommt. Deshalb musst du von jedem Einzelnen die richtige Mentalität einfordern. Jeder muss ein Stück an Einsatz und Bereitscha­ft drauflegen, das gilt auch für die Offensivsp­ieler, die nach hinten arbeiten müssen. Auch Julian Nagelsmann als Trainer ist gefragt. Für mich war das eine unglücklic­he bis sehr gewagte Aussage von ihm, wonach seine Spieler bis zur EM keine Abwehrmons­ter mehr werden. So etwas kann von den Spielern später als Alibi benutzt werden.

Reicht denn die Zeit überhaupt noch aus, um in etwas mehr als drei Monaten mit noch vier Testspiele­n eine Mannschaft zu formen? Deutschlan­ds Anspruch bei der Heim-Europameis­terschaft kann doch nicht das Überstehen der Vorrunde sein.

Ich hoffe es. Man hat aber keine Zeit und keinen Platz mehr für Experiment­e. Den Trainerjok­er hat man mit der Installier­ung von Nagelsmann schon gezogen. Ob das richtig oder falsch war, sei dahingeste­llt. Dieser Schritt wurde vollzogen. Jetzt ist das Einmaleins des Fußballs gefragt.

Das wie aussieht?

Ein klares System, ein klares Positionss­piel am Platz. Ich muss die Spieler dort einsetzen, wo sie auch bei ihren Klubs spielen.

Sie behaupten, für Experiment­e sei keine Zeit mehr. Nagelsmann hat für den März-Lehrgang aber gröbere Kaderänder­ung angekündig­t.

Bis zur Europameis­terschaft müssen sich Automatism­en entwickeln. Du brauchst eine Achse, ein Grundgerüs­t, vom Torwart über die Verteidigu­ng bis hin zu Mittelfeld und Angriff. Wenn personell jetzt alles infrage gestellt wird, dann kriegst du bis zur EM keine Mannschaft zusammen.

Gerd Müller, Rudi Völler, Jürgen Klinsmann, Miroslav Klose: Deutschlan­d war einmal das Land der Stürmer. In der Gegenwart klammert sich die Fußballnat­ion an den 31-jährigen Niclas Füllkrug. Hinter ihm klafft ein gewaltiges Loch. Warum ist das so?

Dieses Problem ist seit zehn Jahren bekannt. Wenn ich es in einem solch langen Zeitraum aus Millionen von Fußballern in diesem Land nicht schaffe, einen Stürmer auszubilde­n, dann bin ich selbst schuld. Auch das Argument, die Legionäre würden den Deutschen in der Bundesliga die Plätze wegnehmen, greift nicht. Hätte Deutschlan­d zwei, drei, vier gute Stürmer von der Klasse Füllkrugs, würden sie bei ihren Klubs spielen. Nur ist das eben nicht der Fall.

Mit einer Vielzahl an Topstürmer­n ist auch Österreich nicht gesegnet. Was trauen Sie dem ÖFB-Team im Sommer zu?

Ich bin positiv überrascht von Österreich. Mit Ralf Rangnick hat das Team einen modernen Trainer, der es schafft, Spielphilo­sophie und Mentalität zu entwickeln. Man sieht, wie gut das der Mannschaft tut. Österreich kann auch bei der EM die großen Nationen ärgern.

Sie waren bis Januar 2021 vier Jahre lang Integratio­nsbeauftra­gter des DFB. Unter ihre Ägide fällt auch der Rücktritt Mesut Özils aus dem Nationalte­am. Man kann sogar von einer Entfremdun­g sprechen. Wie haben Sie diese Causa rückblicke­nd erlebt, wurden Fehler gemacht?

Mesut war eine Geschichte für sich. Das ist ein ganz tiefgreife­ndes Thema, das bis heute nachwirkt und ich nicht mehr im Detail diskutiere­n möchte. Aber lassen sie mich zum Verständni­s eines erklären: Es gibt viele Spieler, die aufgrund ihrer unterschie­dlichen Wurzeln zwiegespal­ten sind. Spieler, die nicht wissen – was aus meiner Sicht verständli­ch ist –, für welches Land sie spielen sollen. Entscheide­nd ist dabei eines: Es muss immer eine Herzensent­scheidung sein, keine aus sportliche­n Gründen. Ein Nationalte­am ist kein Verein. Du spielst für dein Land. Da geht es um gesunden Patriotism­us, um Stolz. Wenn man eine Entscheidu­ng mit voller Überzeugun­g trifft, dann sollte es auch kein Zurück mehr geben.

Sie haben brasiliani­sche Wurzeln, eine Frage zu Neymar liegt auf der Hand. Er hat im Sommer 2023 mit erst 31 Jahren seine Karriere auf höchstem Niveau durch den Wechsel nach Saudiarabi­en zumindest vorübergeh­end für beendet erklärt, ist dem Ruf des ganz großen Geldes gefolgt. Haben Sie dafür Verständni­s?

Wir leben in hochkommer­ziellen Zeiten. Wenn Cristiano Ronaldo, der alles gewonnen hat, mit 37 nach Saudiarabi­en geht, kann ich das eher nachvollzi­ehen als bei Neymar. Neymar hat beziehungs­weise hatte noch so viel vor sich. Es ist einfach schade.

Der Transfer war seinem ohnehin ramponiert­en Ruf nicht zuträglich.

Teilweise ist er aufgrund seiner Theatralik selbst schuld, teilweise hat man ihm unrecht getan. Neymar ist fußballeri­sch einer der Besten. Er bringt Menschen in die Stadien.

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//// Szilasi Kanti Cacau rührte in Wien die Werbetromm­el für den EM-Spielort Stuttgart, ist zudem Markenbots­chafter des VfB.

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