»Deutsche Überheblichkeit«
Der frühere Stürmer und deutsche Nationalspieler Cacau sieht den Erfolg der DFB-Elf bei der Heim-Euro in akuter Gefahr. Er warnt vor Experimenten, übt Kritik an Spielern und Teamchef Nagelsmann.
Deutsche Journalistenkollegen haben nach der 0:2-Niederlage der DFB-Elf gegen Österreich im November von der schlechtesten Nationalmannschaft seit Jahrzehnten gesprochen. Haben sie recht?
Cacau: Das halte ich für etwas überzogen. 2000 und 2004 ist Deutschland in der Vorrunde der Europameisterschaft ausgeschieden, auch bei den jüngsten Weltmeisterschaften 2018 und 2022 war früh Schluss. Aber lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich bin überrascht, wie schlecht Deutschland zuletzt gespielt hat.
Was hat sie dabei am meisten überrascht?
Dass man es nicht geschafft hat, eine Mannschaft mit den richtigen und notwendigen Tugenden auf den Platz zu bringen. Die füreinander kämpft und läuft. Das erschreckt mich schon.
Wie erklären Sie sich diese sportliche Talfahrt?
Mit den Misserfolgen bei den Weltmeisterschaften 2018 und 2022. Sie haben zu einer Unsicherheit geführt. Deutschland war einmal eine Turniermannschaft, das ist seit 2018 vorbei. Es ist eine gewisse Überheblichkeit entstanden. Die eines viermaligen Weltmeisters, der aus der Vergangenheit etwas vorzuweisen hat, es in den letzten Jahren aber nicht abrufen konnte.
Teamchef Julian Nagelsmann meinte nach dem Spiel in Wien, seine Mannschaft brauche womöglich zwei Prozent weniger Talent und zwei Prozent mehr Arbeiter. Fehlt es an der richtigen Mischung?
Es geht weniger um die Mannschaft an sich, sondern um jeden einzelnen Spieler. Jeder weiß, dass ein Spieler mit Talent allein nicht weit kommt. Deshalb musst du von jedem Einzelnen die richtige Mentalität einfordern. Jeder muss ein Stück an Einsatz und Bereitschaft drauflegen, das gilt auch für die Offensivspieler, die nach hinten arbeiten müssen. Auch Julian Nagelsmann als Trainer ist gefragt. Für mich war das eine unglückliche bis sehr gewagte Aussage von ihm, wonach seine Spieler bis zur EM keine Abwehrmonster mehr werden. So etwas kann von den Spielern später als Alibi benutzt werden.
Reicht denn die Zeit überhaupt noch aus, um in etwas mehr als drei Monaten mit noch vier Testspielen eine Mannschaft zu formen? Deutschlands Anspruch bei der Heim-Europameisterschaft kann doch nicht das Überstehen der Vorrunde sein.
Ich hoffe es. Man hat aber keine Zeit und keinen Platz mehr für Experimente. Den Trainerjoker hat man mit der Installierung von Nagelsmann schon gezogen. Ob das richtig oder falsch war, sei dahingestellt. Dieser Schritt wurde vollzogen. Jetzt ist das Einmaleins des Fußballs gefragt.
Das wie aussieht?
Ein klares System, ein klares Positionsspiel am Platz. Ich muss die Spieler dort einsetzen, wo sie auch bei ihren Klubs spielen.
Sie behaupten, für Experimente sei keine Zeit mehr. Nagelsmann hat für den März-Lehrgang aber gröbere Kaderänderung angekündigt.
Bis zur Europameisterschaft müssen sich Automatismen entwickeln. Du brauchst eine Achse, ein Grundgerüst, vom Torwart über die Verteidigung bis hin zu Mittelfeld und Angriff. Wenn personell jetzt alles infrage gestellt wird, dann kriegst du bis zur EM keine Mannschaft zusammen.
Gerd Müller, Rudi Völler, Jürgen Klinsmann, Miroslav Klose: Deutschland war einmal das Land der Stürmer. In der Gegenwart klammert sich die Fußballnation an den 31-jährigen Niclas Füllkrug. Hinter ihm klafft ein gewaltiges Loch. Warum ist das so?
Dieses Problem ist seit zehn Jahren bekannt. Wenn ich es in einem solch langen Zeitraum aus Millionen von Fußballern in diesem Land nicht schaffe, einen Stürmer auszubilden, dann bin ich selbst schuld. Auch das Argument, die Legionäre würden den Deutschen in der Bundesliga die Plätze wegnehmen, greift nicht. Hätte Deutschland zwei, drei, vier gute Stürmer von der Klasse Füllkrugs, würden sie bei ihren Klubs spielen. Nur ist das eben nicht der Fall.
Mit einer Vielzahl an Topstürmern ist auch Österreich nicht gesegnet. Was trauen Sie dem ÖFB-Team im Sommer zu?
Ich bin positiv überrascht von Österreich. Mit Ralf Rangnick hat das Team einen modernen Trainer, der es schafft, Spielphilosophie und Mentalität zu entwickeln. Man sieht, wie gut das der Mannschaft tut. Österreich kann auch bei der EM die großen Nationen ärgern.
Sie waren bis Januar 2021 vier Jahre lang Integrationsbeauftragter des DFB. Unter ihre Ägide fällt auch der Rücktritt Mesut Özils aus dem Nationalteam. Man kann sogar von einer Entfremdung sprechen. Wie haben Sie diese Causa rückblickend erlebt, wurden Fehler gemacht?
Mesut war eine Geschichte für sich. Das ist ein ganz tiefgreifendes Thema, das bis heute nachwirkt und ich nicht mehr im Detail diskutieren möchte. Aber lassen sie mich zum Verständnis eines erklären: Es gibt viele Spieler, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Wurzeln zwiegespalten sind. Spieler, die nicht wissen – was aus meiner Sicht verständlich ist –, für welches Land sie spielen sollen. Entscheidend ist dabei eines: Es muss immer eine Herzensentscheidung sein, keine aus sportlichen Gründen. Ein Nationalteam ist kein Verein. Du spielst für dein Land. Da geht es um gesunden Patriotismus, um Stolz. Wenn man eine Entscheidung mit voller Überzeugung trifft, dann sollte es auch kein Zurück mehr geben.
Sie haben brasilianische Wurzeln, eine Frage zu Neymar liegt auf der Hand. Er hat im Sommer 2023 mit erst 31 Jahren seine Karriere auf höchstem Niveau durch den Wechsel nach Saudiarabien zumindest vorübergehend für beendet erklärt, ist dem Ruf des ganz großen Geldes gefolgt. Haben Sie dafür Verständnis?
Wir leben in hochkommerziellen Zeiten. Wenn Cristiano Ronaldo, der alles gewonnen hat, mit 37 nach Saudiarabien geht, kann ich das eher nachvollziehen als bei Neymar. Neymar hat beziehungsweise hatte noch so viel vor sich. Es ist einfach schade.
Der Transfer war seinem ohnehin ramponierten Ruf nicht zuträglich.
Teilweise ist er aufgrund seiner Theatralik selbst schuld, teilweise hat man ihm unrecht getan. Neymar ist fußballerisch einer der Besten. Er bringt Menschen in die Stadien.