Totengräber des Justizthrillers
30 Jahre nach seinem Welterfolg »Die Firma« hat US-Autor John Grisham mit »Die Entführung« eine Fortsetzung geschrieben. Im von ihm groß gemachten Genre gibt aber ein anderer den Ton an.
Seit seinem Welterfolg „Die Firma“vor über 30 Jahren gilt US-Autor John Grisham als Großmeister des Justizthrillers. Fast im Jahresrhythmus erscheinen seitdem Bücher, in denen zumeist Anwälte für Gerechtigkeit kämpfen. Unglaubliche 300 Millionen Bücher soll Grisham verkauft haben, viele davon wurden in den 1990er-Jahren von Hollywood verfilmt: „Die Akte“mit Julia Roberts, „Der Klient“mit Susan Sarandon, „Die Jury“mit Matthew McConaughey und „Der Regenmacher“mit Matt Damon.
Keine Figur hat sich Grisham-Fans allerdings so sehr eingeprägt wie der junge, ehrgeizige Anwalt Mitch McDeere aus „Die Firma“, in Sydney Pollacks Verfilmung von Tom Cruise perfekt verkörpert. Worum es ging? Als Anwaltskollegen bei einem angeblichen Tauchunfall ums Leben kamen, wandte sich das FBI an McDeere, der ab sofort zwischen die Fronten der Behörde, seiner eigenen kriminellen Kanzlei sowie einer kriminellen Mafiafamilie in Chicago geriet. Leserinnen und Leser blieben über die Jahren offenbar hartnäckig: Wie mochte es mit Mitch und seiner Frau, Abby, weitergegangen sein? Das wollten sie von Grisham wissen, wie dieser im Nachwort schreibt.
Mitch sucht „großes Abenteuer“. Die Handlung seiner nun erschienenen Fortsetzung „Die Entführung“ist 15 Jahre später, im Jahr 2005, angesiedelt. McDeere ist mittlerweile Anwalt bei der größten Anwaltskanzlei der Welt, Scully & Pershing, und wohnt in Manhattan. Er führt ein ziemlich biederes Leben als vorbildlicher Familienvater von zwei Zwillingssöhnen (Cameron und Clark) und braver Ehemann von Abby, die Lektorin für Kochbücher ist. Immer wieder kommen irgendwelche angesagten Köche in ihre – natürlich doch eher unbescheidene – Wohnung, um die ganze Familie – natürlich ganz uneigennützig – zu bekochen.
Es ist eine seltsam saubere Welt, die da präsentiert wird. Aber weil das Leben dann offenbar doch ein wenig zu beschaulich ist, freut es Mitch, dass ihn sein Job zu einem „großen Abenteuer“nach Libyen, das von Diktator Muammar
al-Gaddafi mit harter Hand geführt wird, verschlägt. Dort wird dann Mitchs Kollegin entführt, ihre Begleiter werden bestialisch ermordet und letztlich wird ein Lösegeld in der Höhe von 100 Millionen Dollar gefordert. So hat sich das Mitch, den Gewissensbisse plagen, natürlich nicht vorgestellt. Ab sofort versucht er, gegen Widerstände aller Art das Geld aufzutreiben, damit die Frau befreit werden kann.
Es gibt so viele Punkte, an denen „Die Entführung“scheitert. Von einem Thriller erwartet man einfach mehr Tempo, doch das erste Drittel des Buches plätschert mit Mitchs Erinnerungen vor sich hin. Diese sind aber großteils ziemlich lapidar. Wozu lässt der Autor Mitch literarisch wiederauferstehen, wenn er dann nichts Neues über ihn zu erzählen hat? Antworten auf sich stellende Fragen: Fehlanzeige. Warum ausgerechnet Gaddafi, warum Libyen? Woher wissen Mitchs Gegenspieler bei den Verhandlungen um die Befreiung der Geisel so viel über ihn? Ja, woher eigentlich? Scheinbar ausgelegte Fährten,
so hofft man es zumindest als routinierter Thriller-Leser, werden einfach nicht wieder aufgenommen. Sie führen ins Nichts. Gegen Ende bricht das mühsam aufgebaute Spannungskonstrukt komplett in sich zusammen: Der erwartete finale große Plot-Twist, der das Buch retten könnte, er kommt nicht.
Eigentlich kein Sequel. „Die Entführung“ist ein Justizthriller ohne juristische Taschenspielertricks. Ein Sequel, das sich nicht wie ein solches liest. Ein merkwürdig angestaubt wirkendes Spätwerk, das nie das Gefühl wohliger Nostalgie aufkommen lässt. Vielleicht sollte man das Buch umtiteln auf: „Die Enttäuschung“.
Eine schlechte Nachricht für Grisham ist zugleich eine gute für Leser: Ein geeigneter Nachfolger im Genre des Justizthrillers ist längst gefunden. Steve Cavanagh versteht es mit seiner rasanten, bereits sechs Bücher umfassenden Serie rund um Strafverteidiger Eddie Flynn („Zu wenig Zeit zum Sterben“, „Thirteen“, „Seven Days“) durchgehend zu fesseln.