Wem gehört das Zürcher Ufer?
Eine Initiative will im Kanton Zürich einen durchgehenden Spazierweg am See. Hat die Abstimmung Erfolg, können Grundstücksbesitzer enteignet werden – teilweise ohne Entschädigungszahlungen.
Die flachen und rechteckigen Platten stechen hervor, denn links und rechts von diesem Steg liegen große Steinbrocken wild herum. Das Wasser: türkis und klar. Die Umgebung: ruhig, grün und gepflegt. Das Haus: eine aufgeräumte Villa im klassischen, europäischen Stil. Der Preis: laut Inserat zwischen 20 und 25 Millionen Franken. Das Anwesen in der Gemeinde Stäfa bietet mehr als 400 Quadratmeter Wohnraum, und noch mehr Garten- und Grünfläche. Aber unschlagbar ist hier ein anderes Argument: Das Haus hat einen privaten Zugang zum Zürichsee. Von diesem Garten aus hat man nichts anderes als die schöne Weite im Blick, sie reicht bis zum gegenüberliegenden Ufer und den Hügeln dahinter.
Die Liegenschaften am Zürichsee gehören zu den teuersten in der gesamten Schweiz. Die Ufer als Naherholungsgebiet sind in der Agglomeration heiß begehrt; es gibt öffentlich zugängliche Wege, vor allem an den Quaianlagen in der Stadt, und es gibt die privaten Abschnitte. Doch wie privat darf ein Zugang zum See sein? Eine scheinbar simple Frage, über die die Bevölkerung an diesem Sonntag abstimmt: Soll im Kanton Zürich ein durchgehender Spazierweg direkt am See entstehen (östliche Teile des Ufers liegen in den Kantonen Schwyz und St. Gallen)? Wenn die Initiative angenommen wird, dann ist das eine gute Nachricht für alle Spaziergänger,
und eine schlechte für die Besitzer der schätzungsweise 900 bis tausend privaten Liegenschaften. Sie müssen für den Uferweg Land abtreten.
Über einen durchgehenden Spazierweg wird seit Langem intenstiv debattiert, Initiativen wurden lanciert, Kompromisse ausverhandelt, neue Wegabschnitte gebaut, aber realisiert wurde er nie. Und nun kommt das Thema erstmals zur Urne – die treibende Kraft dahinter ist die Sozialdemokratin und Frauenpolitikerin Julia Gerber Rüegg.
„Gewässer in der Schweiz“, sagt sie, „sind öffentlich. Das sagt das Zivilgesetzbuch.“Man könne ein Haus am See haben, aber die Ufer gehörten allen. Und wenn ein privater Besitzer den Uferbereich seines Grundstückes abschirme, „dann ist das eine Privatisierung von öffentlichem Grund. Das ist nicht in Ordnung, aber das geschieht, und es wird geduldet.“Gerber Rüegg sagt, an der guten Lebensqualität, die der See biete, müssten alle gleichermaßen teilhaben können. War die Zustimmung zur Initiative anfangs verhalten, wird sie mittlerweile von Umweltschutzverbänden, den Grünen Parteien und Sozialdemokraten unterstützt.
Aufgeschüttet. Doch um die rechtliche Lage ist eine große Debatte entbrannt. Sie ist, um es mit einem Wort zu sagen: kompliziert. Auf der Suche nach dringend benötigtem Land wurde der überwiegende Großteil des Ufers am Zürichsee ab dem 19. Jahrhundert aufgeschüttet ; von öffentlicher Hand, später von Privaten. Heute unvorstellbar, aber begehrt waren die Grundstücke zunächst nicht. Und auch sonst kam der Besitz mit Auflagen daher, weil der See auch in der Vergangenheit als Allgemeingut eingestuft wurde.
Wird in manchen Auflagen und Konzessionen lediglich die Pflege des Uferbereichs geregelt, ist in anderen festgehalten, dass die Besitzer das Land oder Teile davon abtreten müssen, wenn das öffentliche Interesse überwiegt. Manchen stehen Entschädigungen zu, manche können ersatzlos enteignet werden. Mehr als 10.000 Verfügungen dieser Art gibt es, die Behörden müssen sich durch alle erst einmal durcharbeiten. Nur dann kann eine abschließende Schätzung abgegeben werden, was der Uferweg kosten würde. Derzeit ist von bis zu 460 Millionen Franken die Rede, wobei ein Großteil davon Entschädigungszahlungen wären (der Weg selbst würde wohl rund 40 Mio. Franken kosten). Eine Zahl, die Gerber Rüegg für zu hoch hält, die Gegner der Initiative hingegen für zu konservativ geschätzt. Nicht mit einberechnet sind jedenfalls die Ausgaben für die Gerichtsverfahren. Denn das haben einige Grundstücksbesitzer schon angekündigt : dass sie den Rechtsweg beschreiten wollen.
Gerber Rüegg wehrt sich dagegen, die Uferinitiative zu einer Neiddebatte zu verkürzen. „Es ist eine Frage der Gerechtigkeit“, sagt sie. Und mit dem Spazierweg müsse das Ufer auch ökologisch aufgewertet werden. Ein Argument, das die Gegner in der Luft zerreißen. Mehr Menschen, mehr Müll, das meint etwa Domenik Ledergerber von der SVP Zürich: „Private Liegenschaften sind oftmals die einzigen Rückzugsorte für die Wasservögel und Fische.“Die Gegner der Uferinitiative weisen zudem darauf hin, dass es streckenweise schon gut erschlossene Spazierwege
»Kein Zürcher kann behaupten, dass er nicht an den See kommt, wenn er an den See will.« »Gewässer in der Schweiz sind öffentlich. Das sagt das Zivilgesetzbuch.«
gebe. „Kein Zürcher kann behaupten, dass er nicht an den See kommt, wenn er an den See will.“Besser sei es, die bereits bestehenden Naherholungsgebiete aufzuwerten und in Bahn- und andere Infrastruktur zu investieren.
Wer in Zürich auf der stets belebten Quaibrücke Richtung See blickt, sieht rechter Hand die Goldküste, also die Sonnenseite, und links den Abschnitt, der als Pfnüselküste verballhornt wird. An der Goldküste wurde vor mehr als zehn Jahren ein Flanierweg zwischen Wädenswil und Richterswil realisiert, und damals hieß es auch, dass dies ein weiterer Schritt zu einem durchgehenden Weg sei. Mehr noch: Mit Nachdruck betont Gerber Rüegg, dass bereits in den 1970er-Jahren ein Seeuferweg geplant war. „Alle, die am See eine Liegenschaft gekauft haben, haben das gewusst.“Der Uferweg müsse ein für alle Mal in die Kantonsverfassung.
Für Ledergerber hingegen ist die gesamte Debatte unverhältnismäßig, zumal hier von Enteignungen die Rede ist – in der Schweiz wird das Recht auf Eigentum schließlich großgeschrieben. Lediglich 13 Kilometer des Zürichsees seien nicht erschlossen, weitere zwölf Kilometer verlaufen unromantisch direkt an der Straße. Aber sei es so schlimm, fragt Ledergerber, „wenn man streckenweise hinter dem See spaziert?“Die Bevölkerung wird am Sonntag die Antwort liefern.