Das Gähnen ist den meisten längst vergangen
Die Bereitschaft, an der EU-Wahl teilzunehmen, ist europaweit sprunghaft gestiegen – ebenso der Wunsch, den Frieden zu verteidigen. Das lockte bei der letzten Wahl noch wenige zur Urne.
Iran, Israel, Ukraine, Russenspione, Teuerung, jugendliche Gewalttaten, Wetterextreme: Es ist viel, was täglich auf einen einprasselt. Auch wenn man die Nachrichten gar nicht mehr sucht, sie holen einen in den sozialen Medien ein, dort aber ungefiltert, mit Bildern, die man nicht vergisst, und mit einem selbstgerechten Ton, der oft vergessen lässt, dass hinter dem Absender jemand steckt, der ein Ziel hat. Meist kein versöhnliches.
Der permanente Krisenmodus macht müde, aggressiv, lethargisch, lädt zu Verschwörungstheorien ein oder aktiviert den Abschaltimpuls. Dazwischen liegt ein weites Feld an Bedrückung. Wie dünn der Firnis über der Wut ist, die in vielen kocht, zeigt sich schon bei einem simplen Spurwechsel auf dem Wiener Ring im Stoßverkehr. Die Bereitschaft, sofort zu explodieren, zieht sich mittlerweile durch viele Lebensbereiche.
Vor diesem destruktiven Hintergrund einigermaßen überraschend sind die Ergebnisse der jüngsten Eurobarometer-Umfrage.
Erstens zeichnet sich ein hohes Interesse an der üblicherweise nicht gerade überlaufenen EU-Wahl ab. 71 Prozent der rund 26.400 Befragten gaben an, im Juni wählen gehen zu wollen. 2019 waren es nur knapp 60 Prozent. Ebenso unerwartet landeten „Verteidigung und Sicherheit“unter den drei wichtigsten Anliegen. Ein Comeback feiert auch der Wunsch nach Frieden: Die meisten Befragten reihten Frieden an erste Stelle der Werte, die verteidigt werden sollten. Frieden und Sicherheit also. Wer noch vor 15 Jahren von der EU als Friedensprojekt sprach, brachte die Menschen zum Gähnen. Zu selbstverständlich (und langweilig) schien das Erreichte.
Im traditionell EU-skeptischen Österreich wurden Armut und Migration höher bewertet als Sicherheit. Nicht verwunderlich: Da man sich auf der Neutralität ausruht, sind es die unmittelbaren Probleme, die bewegen. Auch die Verwerfungen aus der Corona-Zeit sind hier deutlicher zu spüren: 58 Prozent der Österreicher gaben an, mit der EU-Reaktion auf die Pandemie nicht zufrieden zu sein, im EU-Schnitt waren es 46 Prozent. Kränkungen hallen lang nach. Das war bei anderen emotionalen Debatten in der Vergangenheit nicht anders: Ob Zwentendorf oder Kurt Waldheim, meist brauchte es eine ganze Generation, um Gräben wieder zu überbrücken.
Wenn es rund um einen instabil wird, geraten auch vermeintliche Gewissheiten ins Rutschen. Gesellschaftlicher Konsens ist nicht in Stein gemeißelt. Wer hätte sich träumen lassen, dass im Jahr 2024 das Recht auf Abtreibung in Italien zu einem ideologischen Spielball wird? Während jedes EULand also vorrangig mit nationalen Anliegen zu tun hat, so scheint Wählern dennoch die Idee des verbindenden Friedens- und Sicherheitsprojekts plötzlich aktueller denn je. Das ist bei allen Katastrophen eine gute Nachricht. Für Österreichs Parteien ist diese Wahl vor allem als Gradmesser für die Nationalratswahl bedeutsam. Deshalb wird es hier wohl thematisch beim Klein-Klein bleiben. Über Sicherheitspolitik werden nur die anderen sprechen.
» Wenn es rund um einen instabil wird, geraten auch vermeintliche Gewissheiten ins Rutschen. «
LEITARTIKEL DIEPRESSE.COM/ MEINUNG