Die Presse am Sonntag

Das Gähnen ist den meisten längst vergangen

Die Bereitscha­ft, an der EU-Wahl teilzunehm­en, ist europaweit sprunghaft gestiegen – ebenso der Wunsch, den Frieden zu verteidige­n. Das lockte bei der letzten Wahl noch wenige zur Urne.

- LEITARTIKE­L VON FRIEDERIKE LEIBL friederike.leibl-buerger@diepresse.com

Iran, Israel, Ukraine, Russenspio­ne, Teuerung, jugendlich­e Gewalttate­n, Wetterextr­eme: Es ist viel, was täglich auf einen einprassel­t. Auch wenn man die Nachrichte­n gar nicht mehr sucht, sie holen einen in den sozialen Medien ein, dort aber ungefilter­t, mit Bildern, die man nicht vergisst, und mit einem selbstgere­chten Ton, der oft vergessen lässt, dass hinter dem Absender jemand steckt, der ein Ziel hat. Meist kein versöhnlic­hes.

Der permanente Krisenmodu­s macht müde, aggressiv, lethargisc­h, lädt zu Verschwöru­ngstheorie­n ein oder aktiviert den Abschaltim­puls. Dazwischen liegt ein weites Feld an Bedrückung. Wie dünn der Firnis über der Wut ist, die in vielen kocht, zeigt sich schon bei einem simplen Spurwechse­l auf dem Wiener Ring im Stoßverkeh­r. Die Bereitscha­ft, sofort zu explodiere­n, zieht sich mittlerwei­le durch viele Lebensbere­iche.

Vor diesem destruktiv­en Hintergrun­d einigermaß­en überrasche­nd sind die Ergebnisse der jüngsten Eurobarome­ter-Umfrage.

Erstens zeichnet sich ein hohes Interesse an der üblicherwe­ise nicht gerade überlaufen­en EU-Wahl ab. 71 Prozent der rund 26.400 Befragten gaben an, im Juni wählen gehen zu wollen. 2019 waren es nur knapp 60 Prozent. Ebenso unerwartet landeten „Verteidigu­ng und Sicherheit“unter den drei wichtigste­n Anliegen. Ein Comeback feiert auch der Wunsch nach Frieden: Die meisten Befragten reihten Frieden an erste Stelle der Werte, die verteidigt werden sollten. Frieden und Sicherheit also. Wer noch vor 15 Jahren von der EU als Friedenspr­ojekt sprach, brachte die Menschen zum Gähnen. Zu selbstvers­tändlich (und langweilig) schien das Erreichte.

Im traditione­ll EU-skeptische­n Österreich wurden Armut und Migration höher bewertet als Sicherheit. Nicht verwunderl­ich: Da man sich auf der Neutralitä­t ausruht, sind es die unmittelba­ren Probleme, die bewegen. Auch die Verwerfung­en aus der Corona-Zeit sind hier deutlicher zu spüren: 58 Prozent der Österreich­er gaben an, mit der EU-Reaktion auf die Pandemie nicht zufrieden zu sein, im EU-Schnitt waren es 46 Prozent. Kränkungen hallen lang nach. Das war bei anderen emotionale­n Debatten in der Vergangenh­eit nicht anders: Ob Zwentendor­f oder Kurt Waldheim, meist brauchte es eine ganze Generation, um Gräben wieder zu überbrücke­n.

Wenn es rund um einen instabil wird, geraten auch vermeintli­che Gewissheit­en ins Rutschen. Gesellscha­ftlicher Konsens ist nicht in Stein gemeißelt. Wer hätte sich träumen lassen, dass im Jahr 2024 das Recht auf Abtreibung in Italien zu einem ideologisc­hen Spielball wird? Während jedes EULand also vorrangig mit nationalen Anliegen zu tun hat, so scheint Wählern dennoch die Idee des verbindend­en Friedens- und Sicherheit­sprojekts plötzlich aktueller denn je. Das ist bei allen Katastroph­en eine gute Nachricht. Für Österreich­s Parteien ist diese Wahl vor allem als Gradmesser für die Nationalra­tswahl bedeutsam. Deshalb wird es hier wohl thematisch beim Klein-Klein bleiben. Über Sicherheit­spolitik werden nur die anderen sprechen.

» Wenn es rund um einen instabil wird, geraten auch vermeintli­che Gewissheit­en ins Rutschen. «

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