»Das Ziel des Liberalismus ist eine Gesellschaft ohne Privilegien«
Liberalen gehe es darum, das Vertrauen zu haben, dass normale Menschen Großartiges vollbringen können, wenn man sie lässt und ihnen die Bedingungen dafür gibt, sagt der Ökonom und Hayek-Kenner Stefan Kolev. Nur Deregulierung zu fordern sei auch nicht imme
Die deutsche FDP schwächelt in den Umfragen, den Neos in Österreich ging es auch schon einmal besser. Warum haben liberale Ideen aktuell so einen schweren Stand?
Stefan Kolev: Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass der Liberalismus in den vergangenen hundert Jahren je einen leichten Stand hatte. Obwohl wir in Österreich und Deutschland in sehr liberalen Gesellschaften leben, identifizieren sich wenige mit liberalen Ideen. Für viele Menschen ist der Segen, in einer offenen Gesellschaft mit vielen individuellen Freiheiten zu leben, eine Selbstverständlichkeit. Aber die Denkrichtung scheint nicht sehr viele im Herzen anzusprechen. Auch, weil es oft als elitäres Projekt einer privilegierten Minderheit wahrgenommen wird.
nd Geben Sie uns eine Definition von Liberalismus, die Menschen im Herzen anspricht.
Es geht darum, das Vertrauen zu haben, dass normale Menschen Großartiges vollbringen können, wenn man sie lässt und ihnen die Bedingungen dazu gibt. Der Mensch steht im Mittelpunkt. Du bist der Erzeuger dieser großartigen Welt, es sind nicht bloß Elon Musk und Jeff Bezos, sondern jeder Einzelne. Dieses Bild möchte ich möglichst vielen Menschen nahebringen. Liberale denken seit über 200 Jahren darüber nach, wie man diese Bedingungen bestmöglich schaffen kann. Aber vielleicht ist es an der Zeit, noch intensiver darüber nachzudenken, wie man das zu möglichst vielen Menschen transportiert. Es ist auch eine Frage der Rhetorik.
Da sagen Kritiker: Es haben nicht alle dieselben Startchancen. Also ist das System unfair.
Ich bin auch nicht der Meinung, dass wir gleiche Startchancen für alle schaffen können. Das würde voraussetzen, dass wir Kinder ganz früh ihren Eltern wegnehmen, um sicherzustellen, dass Kinder aus reicherem Haus nicht besser erzogen und gebildet werden. Aber ich bin mir sicher, dass man gerechte Chancen schaffen kann. Entscheidend ist, ob man Zugang zu Bildung, wirtschaftlichem Aufstieg, politischer Teilhabe hat. In Deutschland und Österreich ist keine dieser Domänen einer Elite vorbehalten. Entscheidend ist, dass der Fahrstuhl nach oben funktioniert.
Aber funktioniert dieser Fahrstuhl? Wer Geld hat, kann sich eine Privatschule leisten und schafft mitunter auch leichter den Sprung in die Politik und in gut bezahlte Jobs.
Natürlich könnte die Welt immer noch gerechter sein. Wir müssen zum Beispiel daran arbeiten, die Bildungschancen für alle noch zu verbessern. Wir leben in der besten aller historischen Welten, nicht in der besten aller möglichen Welten. Aber zunächst sollten wir anerkennen, dass wir in einer sehr guten Welt leben. Vielleicht fällt es mir leichter, das wahrzunehmen, weil ich selbst im postkommunistischen Bulgarien
aufgewachsen bin. Dort gab es keine Regeln, keine guten Bedingungen, nichts funktionierte. In Deutschland und Österreich sind die Bedingungen für alle so viel besser: auch in Bezug auf die Emanzipation von Frauen, die Gleichberechtigung von Migranten.
Sie arbeiten an einer Biografie über Friedrich August von Hayek. Welche Aktualität hat sein Werk? Warum sollte man heute Hayek lesen?
Was ich persönlich interessant finde, ist Hayeks Kombination aus Liberalismus und Volkswirtschaftslehre. Auch heute gibt es viele liberal eingestellte Ökonomen, aber die meisten versuchen, ihre Weltanschauung hinter ihrer Wissenschaftlichkeit zu verstecken. Hayek prägte mit seinen Ideen die Welt, obwohl er es nicht unbedingt vorhatte. Er war ein klassischer Gelehrter. Aber er fand, dass ökonomisches Denken viele Menschen erreichen kann. Etwa der Gedanke, dass jeder ständig sein einzigartiges Wissen in die Marktwirtschaft einspeist, was allen zugutekommt. Außerdem beneide ich Hayeks Generation darum, dass damals sehr ernsthafte ideologische Debatten geführt wurden. Das gibt es heute nicht mehr, obwohl ich glaube, dass man Menschen damit wieder für den Debattenraum der Mitte gewinnen kann.
Welche Gedanken aus dem Werk Hayeks wollen Sie Politikern vermitteln?
Das lässt sich mit einem Wort sagen: Demut. Viele Menschen gehen in die Politik, weil sie gestalten wollen. Und die Frage ist: Wie gestalte ich, ohne vorzugaukeln, mehr zu wissen, als ich wissen kann? Ein guter Politiker sollte sich selbst beschränken. Aber oft empfinden es Politiker als Schwäche einzugestehen, dass sie etwas nicht wissen. Zu Demut gehört auch, Fehler zuzugeben.
Sie sagten einmal, das Problem sei, dass Politiker immer glauben, sich kümmern zu müssen, etwas tun zu müssen.
Das ist ja auch ein gut gemeinter Ansatz. Aber die Frage ist, welches Bild hat man von dem, um den man glaubt, sich kümmern zu müssen? Man muss Menschen Mündigkeit zutrauen, ihr Leben zu gestalten, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Ja, um manche Menschen muss man sich tatsächlich kümmern, weil sie es selbst nicht schaffen. Aber allen anderen muss man Vertrauen in ihre Autonomie entgegenbringen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Das permanente „Sichkümmern“erzeugt einen historisch gewachsenen Wust an Regeln. Ein Beispiel ist die EUAgrarpolitik. Mit dem heutigen Zustand der europäischen Landwirtschaft hat vieles davon kaum zu tun, aber man schleppt die alten Regeln einfach mit. Manche hatten vielleicht einmal ihre Berechtigung, aber jetzt könnte man sie wieder abschaffen, ohne Angst vor Vorwürfen zu haben, man würde sich nicht mehr kümmern.
Also weniger Gesetze statt mehr.
Im liberalen Verständnis geht es nicht unbedingt um weniger Regeln, sondern darum, dass die Regeln wirklich gut sind. Nur Deregulierung zu fordern ist auch nicht immer richtig, falsche Deregulierung war etwa ein Grund für die Finanzkrise. Anders, als es von Kritikern oft dargestellt wird, sind Regeln ganz zentral für alle Liberalen. Es geht darum – das war für Hayek ganz wichtig –, Regeln zu haben, die möglichst für alle gelten und niemanden bevorzugen. Das Ziel des Liberalismus ist eine Gesellschaft ohne Privilegien.
Ist das nicht eine Utopie – eine Gesellschaft ohne Privilegien?
Wir Ökonomen sagen immer: Im Vergleich wozu? Es geht darum, immer privilegienfreiere Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich der Einzelne entfalten kann. Und, um mit Hayek zu sprechen, das eigene Wissen zum Nutzen aller zu verwerten.
Hayek veröffentlichte „Der Weg zur Knechtschaft“im Jahr 1944, der Krieg ging dem Ende zu, die Zeiten waren höchst instabil, Rufe wurden laut, die Planwirtschaft aus Kriegszeiten in die Friedenszeiten zu verlängern. Sehen Sie Parallelen zu heute?
Wir leben natürlich nicht in 1944, sondern, bei aller Tristesse, noch in relativ friedlichen Zeiten. Es ist eine Zeit der Superfragilität. Am besten passt für mich der Vergleich mit 1928. Es gibt viele Spannungen, aber Gott sei Dank blieb uns ein riesiger makroökonomischer Schock wie die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre noch erspart. Ich sage das nicht, um Panik auszulösen. Ich weise nur darauf hin, dass wir für die Stabilisierung unserer Demokratie ein kleines Fenster haben, und niemand weiß, wann der nächste makroökonomische Schock einschlägt. Wir sollten die Zeit klug nutzen.
Sie sind im Sozialismus aufgewachsen. Wie geht es Ihnen damit, dass im Westen viele, vor allem junge und gebildete Menschen, dem Sozialismus zugeneigt sind?
Die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus ist deshalb spannend, weil man so den Kapitalismus besser versteht. Das hat auch Hayek sehr intensiv gemacht. Wir haben in diesen Fragen ein Bildungsproblem. Der Sozialismus war immer eine Idee, die Intellektuellen gut gefiel. Er appelliert an viele gute Gefühle, Sozialisten haben nun einmal ein sehr attraktives Menschenbild. Aber die Realität ist, dass Sozialismus einen besseren Menschen voraussetzt als das, wie der Mensch meistens ist. Liberalen gelingt es leider oft nicht, die historischen Erfolge der liberalen Ordnung herauszustellen, die so viel Gutes hervorgebracht hat. Wir sollten das mit viel mehr Stolz und Selbstbewusstsein machen.