Kann Europa im Ernstfall Kriegswirtschaft?
Der Krieg in der Ukraine war ein Weckruf für Europa. Der Kontinent rüstet auf, ranghohe Politiker schwören die Bevölkerung mit dem Begriff »Kriegswirtschaft« auf neue Realitäten ein. Könnten Österreich und Europa ihre Ressourcen im Konfliktfall für Kriegs
Ein paar Hundert nagelneue und einsatzbereite Militär-Lkw stehen seit Wochen auf einem Großparkplatz im oberösterreichischen Peuerbach. Sie warten darauf, von ihrem Auftraggeber, der deutschen Bundeswehr, abgenommen zu werden. Produziert wurden sie im Rheinmetall/ Man-Werk in Wien Liesing. Doch dort platzen die Kapazitäten wegen übervoller Auftragsbücher aus allen Nähten. Ein ähnliches Bild im nahegelegenen Werk von General Dynamics European Land Systems (GDELS) in Simmering, wo Pandur-Panzer für das österreichische Bundesheer produziert werden: In der Schweißerei hat man wegen der gestiegenen Nachfrage bereits auf Mehrschichtbetrieb umgestellt, die Produktionshallen werden gerade ausgebaut.
Es sind kleine Mosaike eines größeren Bilds. Es zeigt einen Kontinent, der massiv aufrüstet. Auch rhetorisch: Die Zeit der politischen Sonntagsreden, in denen der Weltfrieden beschworen wurde, ist längst vorbei. Wer den Frieden erhalten wolle, müsse sich auf den Krieg vorbereiten, sagte EU-Ratspräsident Charles Michel kürzlich. Europa müsse in den „Kriegswirtschaftsmodus“wechseln. Der Begriff verwandelte sich seither zu einem geflügelten Wort. Aber was versteht man eigentlich darunter und sind wir wirklich auf dem Weg dorthin?
Was genau eine Kriegswirtschaft ist, lässt sich gar nicht so einfach definieren, erklärt Marek Dabrowski, Ökonom am Brüsseler Thinktank Bruegel zur „Presse am Sonntag“. Wie eine Kriegswirtschaft aussieht, hänge davon ab, mit welcher Art von Krieg man es zu tun hat – mit Kriegsvorbereitungen, einem heißen, kalten oder hybriden Krieg. Zudem können Staaten auf ganz unterschiedliche Weise ihre wirtschaftlichen Ressourcen für Kriegszwecke bündeln. Grob lässt sich jedenfalls zwischen einem die Marktwirtschaft steuernden
Interventionismus und einer planwirtschaftlichen Steuerung unterscheiden. Und generell gilt: Im Krieg geht es darum, knappe Ressourcen zwischen der Rüstungsproduktion und der zivilen Wirtschaft zu verteilen.
Fast 40 Jahre alte Pläne. Generalmajor Harald Vodosek ist Österreichs Rüstungsdirektor. Über seinen Schreibtisch im zweiten Stock eines Kontorhauses am Franz-Josefs-Kai wandern in diesen Tagen Aufträge in einer Dimension, die in den vergangenen Jahrzehnten ohne Beispiel ist. 3500 Beschaffungsvorgänge wickeln sie hier im Amt ab. Pro Jahr. Tendenz: stark steigend. Sie bestellen Pandur-Radpanzer, LeopardKampfpanzer, Drohnen, Steyr-Sturmgewehre. 2019 noch gab es 2,3 Milliarden Euro Budget fürs Heer, heuer sind es schon vier. Viel Geld für Österreich, wenn auch nicht im internationalen Vergleich
nd (für das Nato-Ziel – zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes – würde es nicht reichen). Vor allem aber sollen ab heuer und bis 2033 noch einmal 20 Milliarden Euro bereitstehen – allein für zusätzliche Investitionen.
Österreich hat sein Budget für Verteidigung zuletzt massiv aufgestockt.
Von einem „Meilenstein“spricht Vodosek gegenüber „Der Presse am Sonntag“. Es ist also viel passiert. Aber noch mehr zu tun. Auch für den Worst Case. „Wir werden Vorhaltemaßnahmen treffen müssen“, sagt der Generalmajor. Für den Ernstfall. Vodosek zählt auf: Munition, Treibstoff, Verpflegung, Energie. Die letzten Bevorratungsziele stehen angeblich im Landesverteidigungsplan des Jahres 1985. Damals gab es noch den Kalten Krieg und kein Internet. Neue Pläne seien in Arbeit, sagt Vodosek. Auch da werde sich bald etwas tun.
Wie genau eine „Kriegswirtschaft“im Ernstfall aussehen könnte, welcher Betrieb was und in welchem Umfang produzieren würde, dazu aber gibt es keine Entwürfe, sagt ein anderer Militär mit Einblick zur „Presse am Sonntag“. Vermutlich wären die hiesigen Ressourcen aber nicht allzu groß. Im Notfall kann aber jede Abhängigkeit zum Problem werden. Das zeigte auch die Pandemie – Stichwort FFP2-Masken. Und rechtlich? Der Staat könne im Falle einer akuten Bedrohung zwar die strengen Bundesvergabekriterien umgehen, also schneller unbürokratisch am Markt aktiv werden. Aber viel mehr nicht.
Das Wirtschaftsministerium erklärt auf Anfrage der „Presse am Sonntag“, dass man auf Grundlage des Versorgungssicherungsgesetzes (VerssG 1992) bei einer unmittelbar drohenden Störung der Versorgung oder zur Behebung einer bereits eingetretenen Störung unbedingt erforderliche Lenkungsmaßnahmen anordnen könne.
Planbarkeit für Industrie. Von „Kriegswirtschaft“ist auch in der Nato keine Rede. Einen staatlichen Interventionismus gibt es nicht. Und die Verteidigungsausgaben der europäischen NatoStaaten klettern heuer zwar auf zwei
Prozent des BIP, aber auch nicht höher. Die Rüstungsproduktion wieder hochzufahren, steht trotzdem ganz oben auf der Agenda. Auf dem Gipfel in Vilnius hat das Verteidigungsbündnis im Vorjahr deshalb den „Defence Production Action Plan“beschlossen, ein mehr als 20 Seiten starkes Dokument, dessen Inhalt geheim ist. Es gehe nun jedenfalls auch darum, Planungssicherheit für die Industrie – auch durch langfristige Abnahmeverträge – zu schaffen, und darum, gemeinsam einzukaufen, heißt es in Nato-Diplomatenkreisen. Das zeige Wirkung. „Europa ist wie ein riesiger Öltanker. Es dauert, ihn zu wenden, aber jetzt läuft es überall an.“
Die deutliche Aufstockung der Verteidigungsetats sei ein klares und wichtiges Signal an die Rüstungsindustrie, sagt der Ökonom Florian Dorn vom Münchener Ifo-Institut: „Eine rasche Ausgabenumschichtung ist zwar in den meist planwirtschaftlich angehauchten Autokratien leichter, nach einer gewissen Anlaufzeit funktionieren marktwirtschaftliche Impulse aber deutlich effizienter.“
Das zeigt sich etwa auch bei der eingangs erwähnten Pandur-Panzerproduktion in Simmering. 225 Radpanzer sollen dort allein für das Ös
Militärausgaben schaffen langfristig weder Wohlstand noch Wachstum.
MAREK DABROWSKI Ökonom am Brüsseler Thinktank Bruegel
terreichische Bundesheer bis 2032 vom Band rollen. Der 1,8 Milliarden Euro schwere Auftrag ermögliche es, „längerfristig zu planen und wesentliche Investitionen in die Infrastruktur zu tätigen“, heißt es beim Hersteller GDELS. Um einem angesichts der gestiegenen Nachfrage drohenden Personalengpass vorzubeugen, investiert der Panzerbauer auch verstärkt in die Lehrlingsausbildung. Generell buhle man etwa mit der Autoindustrie um gut ausgebildete Ingenieure.
Nur weil die europäischen Staaten nach Jahrzehnten der Friedensdividende nun wieder ihre Rüstungsschmieden anwerfen, ist man aber noch lang nicht in einer Kriegswirtschaft. Am ehesten kann man in Europa in jenen Ländern davon sprechen, die Krieg führen. In der von Russland überfallenen Ukraine wird seit Kriegsausbruch etwa auch die zivile Infrastruktur verstärkt militärisch genutzt. Die vorjährigen Militärausgaben betrugen sage und schreibe 37 Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP).
In Russland haben sich die Ausgaben für das Verteidigungsministerium – inklusive anderer Institutionen des staatlichen Gewaltmonopols und Geheimdienstes – zwischen 2021 und heuer verdreifacht und sind inzwischen auf knapp 6,7 Prozent des BIP angewachsen. Die Wirtschaft brummt auch deshalb, weil die kriegsbezogenen Sektoren (insbesondere die verarbeitende Industrie und diverse Bautätigkeiten etwa in den besetzten ukrainischen Gebieten) mit ganzen 40 Prozent zum BIPWachstum beitragen.
Wobei sich der Staat auch immer mehr in die Wirtschaft einmischt. Auffällig sei, dass in letzter Zeit mehrere private Rüstungsunternehmen verstaatlicht worden seien, sagt Vasily Astrov,
Russland-Experte am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). Die staatlichen Waffenschmieden sind zum Großteil in der Staatsholding Rostec zusammengefasst. Sie, geleitet von Putins ehemaligem Geheimdienstkollegen Sergej Tschemesow, beschäftigt weit über eine halbe Mio. Mitarbeiter. Zum Teil arbeiten sie seit Kriegsbeginn im Vierschichtbetrieb und erreichen eine rekordhohe Auslastung der Produktionskapazitäten.
Um ausreichend Techniker und ITFachleute zu bekommen, hat der Staat junge Männer, die in die Rüstungsindustrie wechseln, vom Militärdienst befreit und hält sie so im Land. „Außerdem hat er die Löhne in diesem Sektor enorm erhöht und stellenweise verdoppelt“, sagt Astrov. Und er fördert die Rüstungsindustrie und ihre Zulieferer mit billigen Krediten. Zivile Firmen keuchen unter den hohen Löhnen und dem Braindrain in die Rüstungsindustrie. Und doch profitieren umgekehrt viele nun eben auch von ihr – sei es die Bekleidungsindustrie, der Lebensmittelsektor oder Stahlkonzerne am Ural.
Rüstung statt Bildung. Im Vergleich zu Russland hat Europa jedenfalls noch Aufholbedarf. Die viel zitierte Aufrüstung ist eher eine längst überfällige Nachrüstung. Waffen, die westliche Partner an die Ukraine liefern, machen Kapazitäten für neue Waffen frei. Staaten nutzen den Rüstungsboom, um ihre Arsenale auch mit den fortgeschrittensten Systemen zu bestücken. Außerdem waren bereits bisher viele Länder bemüht, veraltete Sowjetsysteme
durch neue westliche Waffen zu ersetzen – ein Trend, den der durchwachsene Erfolg russischer Streitkräfte in der Ukraine beschleunigen dürfte. Den weltweiten Waffenschmieden stehen jedenfalls üppige Jahre bevor. Ob Panzer, Drohnen, Artilleriesysteme, Munition, Hubschrauber oder Cybersecurity-Software: Die Auftragsbücher sind nicht nur bei den österreichischen Produzenten auf Jahre gefüllt.
Trotz starker Aufrüstung ist Europa meilenweit von einer Kriegswirtschaft entfernt.
Obwohl sich erhöhte Militärausgaben, wie am Beispiel Russlands ersichtlich, kurzfristig in einer höheren Wirtschaftsleistung niederschlagen: Langfristig geht eine Kriegswirtschaft – wie auch immer man sie definieren will – zulasten des Wachstums. Denn die Mittel, die für unproduktive Zwecke wie Panzer aufgewendet werden, könnten in friedlichen Zeiten produktiv investiert werden, etwa in Infrastruktur oder Bildung. „Militärausgaben schaffen langfristig weder Wohlstand noch Wachstum“, sagt Dabrowski. Relativ hoch verschuldete Länder können nicht einfach ihre Militärausgaben erhöhen, ohne andernorts einzusparen.
Doch manchmal seien höhere Militärbudgets eben notwendig, erklärt der Ökonom mit Blick auf die aktuelle geopolitische Lage. Eine gestärkte eigenständige Rüstungsindustrie mache Europa jedenfalls wehrfähiger – Kriegswirtschaft hin oder her.