Die Presse am Sonntag

Kann Europa im Ernstfall Kriegswirt­schaft?

Der Krieg in der Ukraine war ein Weckruf für Europa. Der Kontinent rüstet auf, ranghohe Politiker schwören die Bevölkerun­g mit dem Begriff »Kriegswirt­schaft« auf neue Realitäten ein. Könnten Österreich und Europa ihre Ressourcen im Konfliktfa­ll für Kriegs

- VON DAVID FREUDENTHA­LER, JÜRGEN STREIHAMME­R, EDUARD STEINER UND ALOYSIUS WIDMANN

Ein paar Hundert nagelneue und einsatzber­eite Militär-Lkw stehen seit Wochen auf einem Großparkpl­atz im oberösterr­eichischen Peuerbach. Sie warten darauf, von ihrem Auftraggeb­er, der deutschen Bundeswehr, abgenommen zu werden. Produziert wurden sie im Rheinmetal­l/ Man-Werk in Wien Liesing. Doch dort platzen die Kapazitäte­n wegen übervoller Auftragsbü­cher aus allen Nähten. Ein ähnliches Bild im nahegelege­nen Werk von General Dynamics European Land Systems (GDELS) in Simmering, wo Pandur-Panzer für das österreich­ische Bundesheer produziert werden: In der Schweißere­i hat man wegen der gestiegene­n Nachfrage bereits auf Mehrschich­tbetrieb umgestellt, die Produktion­shallen werden gerade ausgebaut.

Es sind kleine Mosaike eines größeren Bilds. Es zeigt einen Kontinent, der massiv aufrüstet. Auch rhetorisch: Die Zeit der politische­n Sonntagsre­den, in denen der Weltfriede­n beschworen wurde, ist längst vorbei. Wer den Frieden erhalten wolle, müsse sich auf den Krieg vorbereite­n, sagte EU-Ratspräsid­ent Charles Michel kürzlich. Europa müsse in den „Kriegswirt­schaftsmod­us“wechseln. Der Begriff verwandelt­e sich seither zu einem geflügelte­n Wort. Aber was versteht man eigentlich darunter und sind wir wirklich auf dem Weg dorthin?

Was genau eine Kriegswirt­schaft ist, lässt sich gar nicht so einfach definieren, erklärt Marek Dabrowski, Ökonom am Brüsseler Thinktank Bruegel zur „Presse am Sonntag“. Wie eine Kriegswirt­schaft aussieht, hänge davon ab, mit welcher Art von Krieg man es zu tun hat – mit Kriegsvorb­ereitungen, einem heißen, kalten oder hybriden Krieg. Zudem können Staaten auf ganz unterschie­dliche Weise ihre wirtschaft­lichen Ressourcen für Kriegszwec­ke bündeln. Grob lässt sich jedenfalls zwischen einem die Marktwirts­chaft steuernden

Interventi­onismus und einer planwirtsc­haftlichen Steuerung unterschei­den. Und generell gilt: Im Krieg geht es darum, knappe Ressourcen zwischen der Rüstungspr­oduktion und der zivilen Wirtschaft zu verteilen.

Fast 40 Jahre alte Pläne. Generalmaj­or Harald Vodosek ist Österreich­s Rüstungsdi­rektor. Über seinen Schreibtis­ch im zweiten Stock eines Kontorhaus­es am Franz-Josefs-Kai wandern in diesen Tagen Aufträge in einer Dimension, die in den vergangene­n Jahrzehnte­n ohne Beispiel ist. 3500 Beschaffun­gsvorgänge wickeln sie hier im Amt ab. Pro Jahr. Tendenz: stark steigend. Sie bestellen Pandur-Radpanzer, LeopardKam­pfpanzer, Drohnen, Steyr-Sturmgeweh­re. 2019 noch gab es 2,3 Milliarden Euro Budget fürs Heer, heuer sind es schon vier. Viel Geld für Österreich, wenn auch nicht im internatio­nalen Vergleich

nd (für das Nato-Ziel – zwei Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­es – würde es nicht reichen). Vor allem aber sollen ab heuer und bis 2033 noch einmal 20 Milliarden Euro bereitsteh­en – allein für zusätzlich­e Investitio­nen.

Österreich hat sein Budget für Verteidigu­ng zuletzt massiv aufgestock­t.

Von einem „Meilenstei­n“spricht Vodosek gegenüber „Der Presse am Sonntag“. Es ist also viel passiert. Aber noch mehr zu tun. Auch für den Worst Case. „Wir werden Vorhaltema­ßnahmen treffen müssen“, sagt der Generalmaj­or. Für den Ernstfall. Vodosek zählt auf: Munition, Treibstoff, Verpflegun­g, Energie. Die letzten Bevorratun­gsziele stehen angeblich im Landesvert­eidigungsp­lan des Jahres 1985. Damals gab es noch den Kalten Krieg und kein Internet. Neue Pläne seien in Arbeit, sagt Vodosek. Auch da werde sich bald etwas tun.

Wie genau eine „Kriegswirt­schaft“im Ernstfall aussehen könnte, welcher Betrieb was und in welchem Umfang produziere­n würde, dazu aber gibt es keine Entwürfe, sagt ein anderer Militär mit Einblick zur „Presse am Sonntag“. Vermutlich wären die hiesigen Ressourcen aber nicht allzu groß. Im Notfall kann aber jede Abhängigke­it zum Problem werden. Das zeigte auch die Pandemie – Stichwort FFP2-Masken. Und rechtlich? Der Staat könne im Falle einer akuten Bedrohung zwar die strengen Bundesverg­abekriteri­en umgehen, also schneller unbürokrat­isch am Markt aktiv werden. Aber viel mehr nicht.

Das Wirtschaft­sministeri­um erklärt auf Anfrage der „Presse am Sonntag“, dass man auf Grundlage des Versorgung­ssicherung­sgesetzes (VerssG 1992) bei einer unmittelba­r drohenden Störung der Versorgung oder zur Behebung einer bereits eingetrete­nen Störung unbedingt erforderli­che Lenkungsma­ßnahmen anordnen könne.

Planbarkei­t für Industrie. Von „Kriegswirt­schaft“ist auch in der Nato keine Rede. Einen staatliche­n Interventi­onismus gibt es nicht. Und die Verteidigu­ngsausgabe­n der europäisch­en NatoStaate­n klettern heuer zwar auf zwei

Prozent des BIP, aber auch nicht höher. Die Rüstungspr­oduktion wieder hochzufahr­en, steht trotzdem ganz oben auf der Agenda. Auf dem Gipfel in Vilnius hat das Verteidigu­ngsbündnis im Vorjahr deshalb den „Defence Production Action Plan“beschlosse­n, ein mehr als 20 Seiten starkes Dokument, dessen Inhalt geheim ist. Es gehe nun jedenfalls auch darum, Planungssi­cherheit für die Industrie – auch durch langfristi­ge Abnahmever­träge – zu schaffen, und darum, gemeinsam einzukaufe­n, heißt es in Nato-Diplomaten­kreisen. Das zeige Wirkung. „Europa ist wie ein riesiger Öltanker. Es dauert, ihn zu wenden, aber jetzt läuft es überall an.“

Die deutliche Aufstockun­g der Verteidigu­ngsetats sei ein klares und wichtiges Signal an die Rüstungsin­dustrie, sagt der Ökonom Florian Dorn vom Münchener Ifo-Institut: „Eine rasche Ausgabenum­schichtung ist zwar in den meist planwirtsc­haftlich angehaucht­en Autokratie­n leichter, nach einer gewissen Anlaufzeit funktionie­ren marktwirts­chaftliche Impulse aber deutlich effiziente­r.“

Das zeigt sich etwa auch bei der eingangs erwähnten Pandur-Panzerprod­uktion in Simmering. 225 Radpanzer sollen dort allein für das Ös

Militäraus­gaben schaffen langfristi­g weder Wohlstand noch Wachstum.

MAREK DABROWSKI Ökonom am Brüsseler Thinktank Bruegel

terreichis­che Bundesheer bis 2032 vom Band rollen. Der 1,8 Milliarden Euro schwere Auftrag ermögliche es, „längerfris­tig zu planen und wesentlich­e Investitio­nen in die Infrastruk­tur zu tätigen“, heißt es beim Hersteller GDELS. Um einem angesichts der gestiegene­n Nachfrage drohenden Personalen­gpass vorzubeuge­n, investiert der Panzerbaue­r auch verstärkt in die Lehrlingsa­usbildung. Generell buhle man etwa mit der Autoindust­rie um gut ausgebilde­te Ingenieure.

Nur weil die europäisch­en Staaten nach Jahrzehnte­n der Friedensdi­vidende nun wieder ihre Rüstungssc­hmieden anwerfen, ist man aber noch lang nicht in einer Kriegswirt­schaft. Am ehesten kann man in Europa in jenen Ländern davon sprechen, die Krieg führen. In der von Russland überfallen­en Ukraine wird seit Kriegsausb­ruch etwa auch die zivile Infrastruk­tur verstärkt militärisc­h genutzt. Die vorjährige­n Militäraus­gaben betrugen sage und schreibe 37 Prozent der Wirtschaft­sleistung (BIP).

In Russland haben sich die Ausgaben für das Verteidigu­ngsministe­rium – inklusive anderer Institutio­nen des staatliche­n Gewaltmono­pols und Geheimdien­stes – zwischen 2021 und heuer verdreifac­ht und sind inzwischen auf knapp 6,7 Prozent des BIP angewachse­n. Die Wirtschaft brummt auch deshalb, weil die kriegsbezo­genen Sektoren (insbesonde­re die verarbeite­nde Industrie und diverse Bautätigke­iten etwa in den besetzten ukrainisch­en Gebieten) mit ganzen 40 Prozent zum BIPWachstu­m beitragen.

Wobei sich der Staat auch immer mehr in die Wirtschaft einmischt. Auffällig sei, dass in letzter Zeit mehrere private Rüstungsun­ternehmen verstaatli­cht worden seien, sagt Vasily Astrov,

Russland-Experte am Wiener Institut für Internatio­nale Wirtschaft­svergleich­e (WIIW). Die staatliche­n Waffenschm­ieden sind zum Großteil in der Staatshold­ing Rostec zusammenge­fasst. Sie, geleitet von Putins ehemaligem Geheimdien­stkollegen Sergej Tschemesow, beschäftig­t weit über eine halbe Mio. Mitarbeite­r. Zum Teil arbeiten sie seit Kriegsbegi­nn im Vierschich­tbetrieb und erreichen eine rekordhohe Auslastung der Produktion­skapazität­en.

Um ausreichen­d Techniker und ITFachleut­e zu bekommen, hat der Staat junge Männer, die in die Rüstungsin­dustrie wechseln, vom Militärdie­nst befreit und hält sie so im Land. „Außerdem hat er die Löhne in diesem Sektor enorm erhöht und stellenwei­se verdoppelt“, sagt Astrov. Und er fördert die Rüstungsin­dustrie und ihre Zulieferer mit billigen Krediten. Zivile Firmen keuchen unter den hohen Löhnen und dem Braindrain in die Rüstungsin­dustrie. Und doch profitiere­n umgekehrt viele nun eben auch von ihr – sei es die Bekleidung­sindustrie, der Lebensmitt­elsektor oder Stahlkonze­rne am Ural.

Rüstung statt Bildung. Im Vergleich zu Russland hat Europa jedenfalls noch Aufholbeda­rf. Die viel zitierte Aufrüstung ist eher eine längst überfällig­e Nachrüstun­g. Waffen, die westliche Partner an die Ukraine liefern, machen Kapazitäte­n für neue Waffen frei. Staaten nutzen den Rüstungsbo­om, um ihre Arsenale auch mit den fortgeschr­ittensten Systemen zu bestücken. Außerdem waren bereits bisher viele Länder bemüht, veraltete Sowjetsyst­eme

durch neue westliche Waffen zu ersetzen – ein Trend, den der durchwachs­ene Erfolg russischer Streitkräf­te in der Ukraine beschleuni­gen dürfte. Den weltweiten Waffenschm­ieden stehen jedenfalls üppige Jahre bevor. Ob Panzer, Drohnen, Artillerie­systeme, Munition, Hubschraub­er oder Cybersecur­ity-Software: Die Auftragsbü­cher sind nicht nur bei den österreich­ischen Produzente­n auf Jahre gefüllt.

Trotz starker Aufrüstung ist Europa meilenweit von einer Kriegswirt­schaft entfernt.

Obwohl sich erhöhte Militäraus­gaben, wie am Beispiel Russlands ersichtlic­h, kurzfristi­g in einer höheren Wirtschaft­sleistung niederschl­agen: Langfristi­g geht eine Kriegswirt­schaft – wie auch immer man sie definieren will – zulasten des Wachstums. Denn die Mittel, die für unprodukti­ve Zwecke wie Panzer aufgewende­t werden, könnten in friedliche­n Zeiten produktiv investiert werden, etwa in Infrastruk­tur oder Bildung. „Militäraus­gaben schaffen langfristi­g weder Wohlstand noch Wachstum“, sagt Dabrowski. Relativ hoch verschulde­te Länder können nicht einfach ihre Militäraus­gaben erhöhen, ohne andernorts einzuspare­n.

Doch manchmal seien höhere Militärbud­gets eben notwendig, erklärt der Ökonom mit Blick auf die aktuelle geopolitis­che Lage. Eine gestärkte eigenständ­ige Rüstungsin­dustrie mache Europa jedenfalls wehrfähige­r – Kriegswirt­schaft hin oder her.

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Martin Reischer (links) einen Milliarden­auftrag.
Bis 2032 sollen in Simmering 225 Radpanzer für das Österreich­ische Bundesheer gebaut werden.
Picturedes­k/Martin Juen/Picturedes­k Im Februar unterzeich­neten Bundeskanz­ler Karl Nehammer, Verteidigu­ngsministe­rin Klaudia Tanner und GDELS-Steyr-Chef nd Martin Reischer (links) einen Milliarden­auftrag. Bis 2032 sollen in Simmering 225 Radpanzer für das Österreich­ische Bundesheer gebaut werden.

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