Angst vor rechtsradikalem Mob
Mehrere Anschläge gegen geplante Flüchtlingsunterkünfte versetzen deutsche Politiker in Alarmbereitschaft. Die Zahl der Übergriffe ist zuletzt deutlich gestiegen.
Berlin. Es war vor ziemlich genau 23 Jahren, als es zu Ausschreitungen Rechtsextremer gegen eine Asylaufnahmestelle im deutschen Rostock-Lichtenhagen kam. Die Bilder von damals haben sich in den Köpfen vieler Politiker eingebrannt. Als die Pogrome von Lichtenhagen werden die Ereignisse von 1992 noch heute bezeichnet. Angesichts neuerlicher Angriffe gegen Asylunterkünfte in Deutschland sind die politisch Verantwortlichen alarmiert.
Präsident Joachim Gauck will heute, Mittwoch, eine Flüchtlingsunterkunft in Berlin besuchen, auch Kanzlerin Angela Merkel stattet dem sächsischen Heidenau eine Visite ab. SPD-Chef Sigmar Gabriel war bereits am Montag vor Ort. Seither verzeichnete die Parteizentrale „eine Flut von Bedrohungen verbunden mit fremdenfeindlicher Hetze“. Nach einer Bombendrohung musste das Gebäude Dienstagnachmittag geräumt werden. Am Abend gab es dann Entwarnung.
Vor einer Flüchtlingsunterkunft in Heidenau bei Dresden war es am vergangenen Wochenende zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen. In der Nacht auf Dienstag entlud sich ein neuer Gewaltexzess. Schauplatz war diesmal Nauen, westlich von Berlin. Eine geplante Flüchtlingsunterkunft brannte ab. Die Polizei geht von einem absichtlich gelegten Feuer aus.
Brandenburgs Ministerpräsident, Dietmar Woidke (SPD), machte schnell klar, was er davon hielt: „Sollten die Ermittlungen einen fremdenfeindlichen Anschlag belegen, werden Polizei und Justiz in Brandenburg alles daransetzen, der Täter habhaft zu werden.“Als Schande bezeichnete Finanzminister Wolfgang Schäuble die Taten.
Die Flüchtlingsthematik beschäftigt die deutsche Innenpolitik tagtäglich. Schließlich muss der Staat heuer mit der Ankunft von bis zu 800.000 Menschen rechnen. Absolut betrachtet verzeichnet die Bundesrepublik die höchste Zahl an Asylwerbern innerhalb der EU. Von Jänner bis Juli beantragten rund 218.000 Personen Asyl. Gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres sind das mehr als doppelt so viele.
Der zunehmende Ansturm schlägt sich auch in den Übergriffen auf Schutzsuchende nieder. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres kam es deutschlandweit bereits zu 202 Angriffen auf Asyl- und Flüchtlingsunterkünfte. 173 davon wurden von Rechtsextremen verübt. Vor allem gegenüber 2014 dürfte die Stimmung schlechter geworden sein. Im gesamten Vorjahr waren nämlich „nur“203 Angriffe registriert worden.
Einigkeit bei Abschiebungen
Für den Extremismusforscher Johannes Kiess von der Universität Leipzig sei es daher „höchste Eisenbahn“, gegen die rechten Kräfte vorzugehen. Denn gerade jetzt, da so viele Flüchtlinge nach Deutschland kämen, würden die Rechten eine Möglichkeit sehen, ihre Stärke unter Beweis zu stellen. „Genau darauf haben sie gewartet“, sagt Kiess. Mit Anschlägen werde man in Zukunft immer wieder rechnen müssen. Die Politik sei deshalb gefragt, „Flagge zu bekennen“. Dazu ge- höre auch, der Bevölkerung zu vermitteln, dass Asyl ein Menschenrecht sei.
Die Vorschläge der Politik zur Verbesserung der Lage sind jedoch ganz unterschiedlich. Für Ralf Fücks von der Heinrich-BöllStiftung handelt es sich bei diesen vor allem um „hilflose Versuche zwischen Abschreckung und Eindämmung bei gleichzeitiger administrativer Bewältigung des Problems“. Während Merkel etwa an die faire Verteilung innerhalb der EU appelliert, schlägt die Polizeigewerkschaft Bannmeilen für Flüchtlingsquartiere vor. Schon vor wenigen Wochen hatte sie die Idee von Grenzkontrollen aufgeworfen – woran in erster Linie Bayern großes Interesse haben dürfte. Schließlich findet der Erstkontakt mit deutschem Boden großteils in diesem Bundesland statt. Von Sach- statt Barleistungen sprach wiederum Innenminister Thomas de Maizi`ere. Dieser ist es auch, der Pensionisten aus dem Ruhestand holen will, um der steigenden Zahl an Flüchtlingen Herr zu werden. Am Dienstag kündigte er an, Kommunen und Länder (die Flüchtlinge nach einem Verteilungsschlüssel aufnehmen) strukturell und dauerhaft zu unterstützen. Den Vorwurf, zu spät auf die aktuelle Situation reagiert zu haben, lässt er aber nicht gelten.
Einig zeigen sich die Politiker jedenfalls in der Abschiebung derjenigen, die aus deutscher Sicht nicht bleiben dürfen. Das sind in ihren Augen vor allem Bürger aus dem Balkan. 67 Prozent der Ausgewiesenen stammten in der ersten Jahreshälfte von dort.