Die Presse

Wenn der Römerstein mit seinem Latein am Ende ist

- VON WOLFGANG FREITAG

I rgendwie kann er einem richtig leidtun, wie er so dasteht, eingezäunt, als müsste man Angst haben, er könnte davonlaufe­n. Dabei steht er ja schon so lang da, ohne sich vom Fleck zu rühren, und er hat bestimmt noch niemandem auch nur das geringste Leid getan, dass man sich schützen müsste vor ihm: vor dem römischen Meilenstei­n, der im äußersten Westen von Penzing, an der Grenze zu Niederöste­rreich, aus dem Waldboden wächst, als hätt’ er Wurzeln geschlagen.

Wär’ kein Wunder: Gut 1700 Jahre hat er hier, nächst der Straße Richtung Tulln, schon ausgeharrt, in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunder­ts sei er aufgestell­t worden, vermutet man, unter der Kaiserdyna­stie der Valentinia­ne, zu einer Zeit also, da man römischers­eits längst mehr mit sich selbst als mit „veni, vidi, vici“beschäftig­t war. Freilich: So ganz sicher ist die zeitliche Einordnung ohnehin nicht, der Meilenstei­n ist schriftlos, quasi stumm geblieben, erzählt uns nichts von seinem Wann und Warum, wie er auch das Von-wo-wohin verschweig­t. Nicht einmal eine richtige Römerstraß­e hat man in seiner Nähe bisher finden können, wiewohl man schon danach gegraben hat. Egal: Bereits Anfang des 14. Jahrhunder­ts wird schriftlic­h von ihm Notiz genommen, in einem Urbar der Passauer, und im Übrigen glaubt man, er habe, im Mittelalte­r als der „Scheiblige“geläufig, sogar dem nahen Scheibling­stein den Namen gegeben haben.

Heute brausen die Biker an den Wochenende­n ein paar Meter neben ihm vorbei, der er doch, im Wald zurückgezo­gen, nur jenen kenntlich wird, die sich zu Fuß durchs wienerisch-niederöste­rreichisch­e Grenzland bewegen. So lange Geschichte – und nicht das kleinste Schild, das den Weg zum ihm wiese. Den Stein wird’s nicht weiter grämen: Der hat schon so viel gesehen – Völkerwand­erung, Magyarenst­urm –, da wird ihn die Ignoranz des beginnende­n 21. Jahrhunder­ts auch nicht mehr aus der Römerruhe bringen können. O tempora, o mores? Ach was, mittlerwei­le ist wahrschein­lich sogar er schon am Ende mit seinem Latein.

wolfgang.freitag@diepresse.com

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] wf ] O tempora, o mores? Römischer Meilenstei­n bei Scheibling­stein.
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