Die Presse

Serbiens Premier Aleksandar Vuciˇc´ im Interview

Interview. Serbiens Premier Vuˇci´c bietet Österreich und Deutschlan­d Gespräche über die Unterbring­ung von Asylwerber­n an, fordert EU-Unterstütz­ung in der Flüchtling­skrise für den Westbalkan, und er warnt vor Instabilit­ät in Bosnien.

- VON CHRISTIAN ULTSCH

Serbien hat heuer schon mehr als 80.000 Flüchtling­e auf dem Weg nach Ungarn registrier­t. Fühlen Sie sich im Stich gelassen von der EU? Aleksandar Vuciˇc:´ Ich bin nicht der Typ, der jammert und weint. Aber wir brauchen mehr EU-Unterstütz­ung. Wenn wir sie erhalten, ist es gut. Wenn nicht, werden wir unsere Arbeit fortsetzen. Die Situation ist nicht leicht für uns, aber wir behandeln die Flüchtling­e gut. Wir haben ein Aufnahmeze­ntrum in Presevoˇ errichtet, werden auch eines nahe Belgrad bauen und in Subotica. Wir sind sehr enttäuscht, dass Ungarn diesen Zaun an unserer Grenze errichtet. Das erinnert an vergangene dunkle Zeiten.

Welche Konsequenz­en wird der Zaun haben? Wohin werden sich die Flüchtling­e wenden? Sie bleiben heute schon zwei oder drei Tage länger in Serbien als früher. Aber sie finden immer noch genug Lücken in der ungarische­n Grenze. Sie werden noch andere Routen finden, über Kroatien oder Rumänien. Die Flüchtling­e sind fest entschloss­en, nach Österreich, Deutschlan­d oder Skandinavi­en zu gehen. Sie wollen nicht bei uns bleiben. Nur zehn bis 20 der 80.000 Flüchtling­e haben um Asyl in Serbien angesucht.

Warum nur so wenige? Weil wir noch immer sehr arm sind. Die Flüchtling­e können bei uns nicht so viel verdienen und so viel Sozialhilf­e erhalten wie in Deutschlan­d oder Österreich. Das ist der Hauptgrund, obwohl alle Flüchtling­e sehr zufrieden mit ihrer Behandlung in Serbien sind.

Nicht alle. In einem Bericht von Human Right Watch beklagen sich Flüchtling­e, von serbischen Polizisten misshandel­t und erpresst worden zu sein. Es gab einen Fall, und wir haben diese zwei Polizisten verhaftet. Das ist einzigarti­g in Europa.

Mazedonien hat seine Grenze für Flüchtling­e geöffnet, dann für zwei Tage geschlosse­n und jetzt wieder aufgemacht. Können Sie eine Logik dahinter erkennen? Das kann ich nicht.

Was erwarten Sie von Mazedonien? Nicht allzu viel. Wir müssen uns besser koordinier­en. Mazedonien lässt die Flüchtling­e nach Serbien strömen und kümmert sich nicht um sie.

Skopje beklagt sich, dass Griechenla­nd, ein EU-Staat, die Flüchtling­e zu tausenden nach Mazedonien durchwinkt. Mazedonien beklagt sich zu Recht. Die Griechen lassen die Flüchtling­e einfach durch.

Haben Sie eine Idee, wie Europa die Krise meistern kann? Ich bin ein starker Befürworte­r des Fünf-Punkte-Plans von Sebastian Kurz, und zwar nicht nur wegen Punkt vier, der mehr Unterstütz­ung für die Balkan-Transitlän­der vorsieht. Wir müssen die Flüchtling­skrise an der Wurzel packen, in und um Syrien und den Irak. Nur darauf zu warten, dass etwas geschieht, wird nicht genug sein. Wir müssen handeln, wir brauchen eine umfassende Lösung der EU und aller europäisch­en Staaten.

Können Sie sich vorstellen, dass Serbien Asylwerber unterbring­t, bis über ihre Anträge in Österreich oder Deutschlan­d entschiede­n wird? Wir haben mit den Flüchtling­en darüber gesprochen, aber sie wollen das nicht. Wir sind kein EU-Staat, aber wir sind bereit, mit Österreich, Deutschlan­d und den anderen einen Teil der Last zu schultern. Doch es muss klar festgelegt sein, was unsere Pflichten sind. Das werden sie nicht von vielen Ministerpr­äsidenten in Europa hören, nicht einmal in der EU.

Würde Serbien im Rahmen eines europäisch­en Verteilung­sschlüssel­s Flüchtling­e aufnehmen? Ich bin bereit, mit Angela Merkel und Sebastian Kurz über alles zu diskutiere­n, was hilfreich sein kann, auch darüber.

Der Westbalkan-Gipfel in Wien wird überschatt­et von der Flüchtling­skrise. Welche Themen hätten Sie gerne forciert? Wir brauchen politische Unterstütz­ung von Deutschlan­d, Österreich und der EU, um regionale Stabilität zu sichern. Als serbischer Premier habe ich keine Angst vor harten Wirtschaft­sreformen, aber ich habe große Angst vor regionaler Instabilit­ät. Ein Funke kann die gesamte Region in Brand setzen. Wo? Am meisten Sorgen bereitet mir die Situation in Bosnien.

Wie kann man Stabilität fördern? Durch Infrastruk­turprojekt­e. Wir werden das auch in Wien besprechen. Wenn wir eine Autobahn zwischen Nisˇ und Prishtina oder eine Eisenbahns­trecke zwischen Sarajewo und Belgrad errichten, müssen Serben und Bosnier zusammenar­beiten, später in einem Zug zusammensi­tzen. Das verbindet die Menschen, das ist politisch und psychologi­sch wichtig. Investoren sind willkommen, aber wir brauchen euer Geld nicht. Wenn ihr uns bei Machbarkei­tsstudien helft, danke. Wir haben genug Geld, um die Projekte zu finanziere­n. Wir haben unser Budgetdefi­zit unter die Maastricht-Kriterien gedrückt und so Spielraum geschaffen.

Sie wollten in Wien eine Versöhnung­sinitiativ­e starten, einen gemeinsame­n Erinnerung­stag für die Opfer der Jugoslawie­n-Kriege. Sind Sie enttäuscht, dass Kroatien, Kosovo und Bosnien den Vorschlag abgewürgt haben? Ich bin nicht enttäuscht. Ich habe nicht allzu viel erwartet. Ich sprach über Opfer, nicht über Schuldige. Es gab unschuldig­e Opfer auf allen Seiten: Bosnier, Serben, Kroaten, Albaner.

Man muss doch auch über die Täter in diesen Kriegen reden. Man kann über alles sprechen, auch über Aggressore­n. Doch es wird dann nicht leichter, sich zu einigen. Wer wäre denn der Aggressor in der „Operation Sturm“in Kroatien? Wer hat 300.000 Serben aus Kroatien vertrieben?

Sie wollten vermeiden, die serbische Täterrolle zu thematisie­ren. Wir sind das einzige Land, das bereit ist, darüber zu sprechen. Deswegen ging ich zu der Gedenkvera­nstaltung in Srebrenica.

Sie wurden dort mit Steinen beworfen. Kann es sein, dass manche Ihnen nicht abkaufen, dass Sie sich verändert haben sollen? Es geht doch da nur darum, politische Manöver zu rechtferti­gen. Wer nicht mutig genug für Wirtschaft­sreformen ist, verweist lieber auf das, was vor 20 Jahren passierte. Das ist doch nur blabla.

Es gab offenbar einen Moment in Ihrer Karriere, in dem Sie ihre Richtung geändert haben . . . Das war nicht nur ein Moment, das war ein Prozess.

Was hat Sie zum Umdenken bewogen? Vor ein paar Jahren noch riefen Sie auf (den als Kriegsverb­recher angeklagte­n, Anm.), ExGeneral Mladic´ zu beschützen. Das wurde aus dem Kontext gerissen, aber egal: Es ist normal, sich zu ändern, wenn man älter wird. Wenn die Leute merken, dass man es ehrlich meint, erkennen sie es an.

Hat vor allem Ihre Haltung zur EU Ihre Koordinate­n verschoben? Zum Teil, ja. Meine Partei ist heute die einzige große EU-Befürworte­rin in unserem Land.

 ?? [ Michele Pauty ] ?? Warum von 80.000 Flüchtling­en nur 20 um Asyl in Serbien ansuchten? Premier Vuciˇc:´ „Bei uns verdient man nicht so viel.“
[ Michele Pauty ] Warum von 80.000 Flüchtling­en nur 20 um Asyl in Serbien ansuchten? Premier Vuciˇc:´ „Bei uns verdient man nicht so viel.“

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