Skype und Twitter als Autobiografie
Gesellschaft. Wie wandelt sich das Bild der Familie mit der Zeit? Grazer Forscherinnen untersuchen, wie das Internet Zusammengehörigkeiten prägt – auch über weite Distanzen.
Wer hat nicht selbst schon mit den Eltern über Skype ein Videotelefonat aus dem Ausland geführt oder zeigte den Großeltern die neue Frisur des Enkerls über WhatsApp? Dass Familienzusammenhalt über technische Errungenschaften nicht auf enge Orte begrenzt ist, und was dies für unsere Gesellschaft bedeutet, erforschen Wissenschaftlerinnen der Uni Graz. Demnächst erscheint dazu der Sammelband „Click and Kin“(Click und Sippe) bei University of Toronto Press.
Darin werden Beispiele von Menschen gezeigt, die auch über Blutsverwandtschaft hinaus durch moderne Medien enge Beziehungen aufbauen, die sich wie Familienbande anfühlen. Etwa Perso- nen, die aus dem Iran geflüchtet, aber über das Internet in einer Community integriert sind, die weiterhin politisch im Iran positioniert ist. Oder Jugendliche, die undokumentiert von Mexiko in die USA eingewandert sind: Sie halten über Medien mit ihrem Herkunftsland und ihrer Familie Kontakt. „Das führt zu philosophischen Überlegungen, was dies über unsere Beziehungen aussagt“, erklärt Silvia Schultermandl, Amerikanistin der Universität Graz.
Sie beschäftigt sich mit dem „Transnationalen als ästhetische Erfahrung“. Transnationalität steht für die Tatsache, dass Familien bzw. das Gefühl eines Familienverbandes nicht an einem Ort verankert ist, sondern über nationale Grenzen hinausgeht: Wenn Mütter mit ihren Kindern Kontakt halten, obwohl sie örtlich weit getrennt sind. Was früher in Callcentern mit billigen Auslandstarifen abgewickelt wurde, kann heute im Wohnzimmer am Laptop oder unterwegs vom Smartphone aus besprochen werden. „Wir fragen uns: Hat sich durch die Medien das Bild dessen verändert, wie man Familie und Verwandtschaft definiert?“, so Schultermandl, die selbst mit ihrer Familie in den USA lebte und über digitale Medien Kontakt mit zuhause hielt.
Als Beispiel nimmt sie „Mummy Blogs“, in denen Mütter im Internet über ihre Erfahrungen schreiben. Die Autorinnen stehen oft über den Blog und die Kommentare dazu mit den Leserinnen in stärkerer Beziehung als zu ihrer Mutter oder Schwester. „Durch die Anonymität und Distanz sind die Leute dort oft offener und ehrlicher als in der gelebten Beziehung“, sagt Schultermandl. Vor allem bei sehr sensiblen Themen: Auch „Cancer Blogs“sind ein Beispiel, in denen Wissenschaftlerinnen der 1980erJahre heute über ihre Erfahrungen mit Krebs berichten.
Existieren wir nur mit Handy?
„Für Literaturwissenschaftler sind diese interaktiven Medien spannend: Durch die Kommentare wird sichtbar, wie der Text auf die Person, die ihn liest, wirkt.“Solche Aspekte konnte man bisher nur erahnen oder in Rezeptionsstudien erforschen. „In den Foren finden wir empirische Daten zur ,ReaderResponse-Theorie‘. Wie wird Kommunikation gebildet; indem sich Personen auf den Text beziehen und sich dazu äußern? Dem kann man sich etwa durch Diskursanalyse annähern“, so Schultermandl.
Eine weitere Frage, die in dem Sammelband angesprochen wird, ist: Existieren wir nur mehr, wenn unser Handy funktioniert? Als Beispiel wird ein Forscher im Amazonasgebiet genannt, der mit seinen Kindern über das Smartphone in Kontakt ist. Er existiert für seine Kinder nur, wenn die Tracking-App seines Handys funktioniert und sie beobachten, wo er sich aufhält.
„Was sagt es über die Qualität unserer Beziehungen untereinander aus“, fragt Schultermandl. Sie will nun weiterforschen in Richtung Autobiografie 2.0, also die Selbstdarstellung der Menschen in Blogs, auf Facebook und Twitter. „Selbst Bilder auf Instagram etc. dienen heute der Selbstrepräsentation, wie es sie früher nicht gab.“