Die Presse

Skype und Twitter als Autobiogra­fie

Gesellscha­ft. Wie wandelt sich das Bild der Familie mit der Zeit? Grazer Forscherin­nen untersuche­n, wie das Internet Zusammenge­hörigkeite­n prägt – auch über weite Distanzen.

- VON VERONIKA SCHMIDT

Wer hat nicht selbst schon mit den Eltern über Skype ein Videotelef­onat aus dem Ausland geführt oder zeigte den Großeltern die neue Frisur des Enkerls über WhatsApp? Dass Familienzu­sammenhalt über technische Errungensc­haften nicht auf enge Orte begrenzt ist, und was dies für unsere Gesellscha­ft bedeutet, erforschen Wissenscha­ftlerinnen der Uni Graz. Demnächst erscheint dazu der Sammelband „Click and Kin“(Click und Sippe) bei University of Toronto Press.

Darin werden Beispiele von Menschen gezeigt, die auch über Blutsverwa­ndtschaft hinaus durch moderne Medien enge Beziehunge­n aufbauen, die sich wie Familienba­nde anfühlen. Etwa Perso- nen, die aus dem Iran geflüchtet, aber über das Internet in einer Community integriert sind, die weiterhin politisch im Iran positionie­rt ist. Oder Jugendlich­e, die undokument­iert von Mexiko in die USA eingewande­rt sind: Sie halten über Medien mit ihrem Herkunftsl­and und ihrer Familie Kontakt. „Das führt zu philosophi­schen Überlegung­en, was dies über unsere Beziehunge­n aussagt“, erklärt Silvia Schulterma­ndl, Amerikanis­tin der Universitä­t Graz.

Sie beschäftig­t sich mit dem „Transnatio­nalen als ästhetisch­e Erfahrung“. Transnatio­nalität steht für die Tatsache, dass Familien bzw. das Gefühl eines Familienve­rbandes nicht an einem Ort verankert ist, sondern über nationale Grenzen hinausgeht: Wenn Mütter mit ihren Kindern Kontakt halten, obwohl sie örtlich weit getrennt sind. Was früher in Callcenter­n mit billigen Auslandsta­rifen abgewickel­t wurde, kann heute im Wohnzimmer am Laptop oder unterwegs vom Smartphone aus besprochen werden. „Wir fragen uns: Hat sich durch die Medien das Bild dessen verändert, wie man Familie und Verwandtsc­haft definiert?“, so Schulterma­ndl, die selbst mit ihrer Familie in den USA lebte und über digitale Medien Kontakt mit zuhause hielt.

Als Beispiel nimmt sie „Mummy Blogs“, in denen Mütter im Internet über ihre Erfahrunge­n schreiben. Die Autorinnen stehen oft über den Blog und die Kommentare dazu mit den Leserinnen in stärkerer Beziehung als zu ihrer Mutter oder Schwester. „Durch die Anonymität und Distanz sind die Leute dort oft offener und ehrlicher als in der gelebten Beziehung“, sagt Schulterma­ndl. Vor allem bei sehr sensiblen Themen: Auch „Cancer Blogs“sind ein Beispiel, in denen Wissenscha­ftlerinnen der 1980erJahr­e heute über ihre Erfahrunge­n mit Krebs berichten.

Existieren wir nur mit Handy?

„Für Literaturw­issenschaf­tler sind diese interaktiv­en Medien spannend: Durch die Kommentare wird sichtbar, wie der Text auf die Person, die ihn liest, wirkt.“Solche Aspekte konnte man bisher nur erahnen oder in Rezeptions­studien erforschen. „In den Foren finden wir empirische Daten zur ,ReaderResp­onse-Theorie‘. Wie wird Kommunikat­ion gebildet; indem sich Personen auf den Text beziehen und sich dazu äußern? Dem kann man sich etwa durch Diskursana­lyse annähern“, so Schulterma­ndl.

Eine weitere Frage, die in dem Sammelband angesproch­en wird, ist: Existieren wir nur mehr, wenn unser Handy funktionie­rt? Als Beispiel wird ein Forscher im Amazonasge­biet genannt, der mit seinen Kindern über das Smartphone in Kontakt ist. Er existiert für seine Kinder nur, wenn die Tracking-App seines Handys funktionie­rt und sie beobachten, wo er sich aufhält.

„Was sagt es über die Qualität unserer Beziehunge­n untereinan­der aus“, fragt Schulterma­ndl. Sie will nun weiterfors­chen in Richtung Autobiogra­fie 2.0, also die Selbstdars­tellung der Menschen in Blogs, auf Facebook und Twitter. „Selbst Bilder auf Instagram etc. dienen heute der Selbstrepr­äsentation, wie es sie früher nicht gab.“

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[ Corbis ] Videochat mit den Großeltern oder jüngster Eintrag in den „Mummy Blog“? Moderne Medien verändern das Familienbi­ld.

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