Sparpolitik erhöht die männliche Suizidrate
Ökonomie. Forscher der Webster University Wien und der Universität Portsmouth belegen, dass sich Sparmaßnahmen auf das Gesundheitswesen in EU-Krisenzonen auswirken. Betroffen sind vor allem ganz junge und alte Männer.
„Wir hören oder lesen in den Nachrichten fast täglich, dass sich Menschen wegen ökonomischer Schwierigkeiten das Leben nehmen“, sagt Nikolaos Antonakakis, Ökonom an der Webster University Wien. Der Wirtschaftsprofessor aus Griechenland wollte gemeinsam mit seinem Kollegen Alan Collins von der Universität Portsmouth (England) herausfinden, ob sich fiskale Sparpolitik auf der EU-Ebene direkt auf die Suizidrate auswirkt. Sie untersuchten Länder, auf die sich die Eurokrise am stärksten auswirkte: Griechenland, Irland, Italien, Portugal und Spanien.
Die Grundannahme der Forscher war simpel: Wenn sich das permanente Einkommen von Menschen reduziert oder ganz wegfällt, verschlechtert das den Lebensstil und damit die „Zufriedenheit im Leben“. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, Suizid zu begehen. Um das zu untersuchen, verglichen sie viele Daten: zunächst die offiziellen Suizidstatistiken der jeweili- gen Länder zwischen 1968 und 2012 sowie die Sterblichkeitsdatenbank der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die Forscher splitteten die Zahlen in Altersgruppen und Geschlechter auf.
Danach erhoben sie die finanziellen Ausschüttungen der Staaten anhand des Bruttoinlandsprodukts (BIP): Hier konzentrierten sie sich auf die Ausgaben – und Kürzungen – im Gesundheitssystem sowie auf die Steuer- und Budgetpolitik. Dazu benutzten sie Daten der Weltbank, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und des statistischen Amts der EU (Eurostat). Zudem griffen sie auf die Arbeitslosenzahlen der jeweiligen EU-Krisenländer zurück.
Schockierende Ergebnisse
Die Berechnungen aus den Daten waren für die Forscher schockierend: Jedes Prozent einer negativen Wachstumsrate des BIPs – und die damit verbundenen Lohnkürzungen – verursachte einen beinahe einprozentigen Anstieg der Suizid- rate durch alle männlichen Altersgruppen hindurch: In Zahlen sind das allein in den Jahren von 2011 bis 2012 über 6000 Selbsttötungen mehr – Tendenz steigend.
„Besonders betroffen sind ganz junge und ganz alte Männer, zwischen zehn und 24 sowie zwischen 65 und 89 Jahren“, sagt Antonakakis. Überraschend war die Auswirkung auf die junge, eigentlich flexiblere, Generation, die „heutzutage viel vorausplant und dazu angeleitet wird, ihren ökonomischen Standard zu verbessern“. Sie sehen bei der Reduktion ihres Fixeinkommens oder Arbeitslosigkeit ihre Zukunft gefährdet. Das wirkt sich auf ihre Mentalität aus. Alte Menschen sind wegen der Pensionen betroffen, die bei Schuldenschnitten gern zuerst gekürzt werden. Sie finden keinen Weg, ihr Einkommen zu erhöhen und emigrieren nicht.
Männer sind in diesen Ländern meistens die einzigen „Ernährer“ihrer Familien. Ihr Status hängt an den Einnahmen. Daher sind die „schockierenden Zahlen“auch männlich. Mediterrane Länder ha- ben historisch betrachtet eine niedrige Suizidrate. In den skandinavischen Ländern, wo sich etwa das schlechtere Klima und die wenigen Sonnenscheintage auf das Gemüt auswirken, ist die Selbstmordrate nach wie vor höher. Aber in den untersuchten Regionen nimmt sie nun wegen der ökonomischen Unsicherheit stark zu.
Aktionen auf dem EU-Level
Antonakakis und Collins weiten ihre Forschung auf alle 28 EU-Länder aus. Das ermöglicht den Vergleich zwischen den Ländern, die am Sparpaket teilnahmen, und jenen, die das nicht taten. Zudem sollen politische Entscheidungsträger auf dieses Problem verstärkt aufmerksam gemacht werden. Antonakakis betont, dass „Sparpolitik natürlich betrieben werden muss, wo es nötig ist, aber nicht langfristig und nicht ohne ein Sicherheitsnetz – etwa durch eine bessere Arbeitsplatzsicherung“. Das sollte bei denjenigen die auf EU-Level gesundheitspolitische Aktionen setzen, berücksichtigt werden.