Wo das Innen ins Außen f ließt
In Puchenau muss kein Kind eine Straße überqueren, um in den Kindergarten oder in die Schule zu gelangen, und kein Kind kommt beim Spielen unter die Räder“, zeigte sich Roland Rainer in einem Gespräch kurz vor seinem Tod 2004 gleichermaßen stolz wie verärgert darüber, dass in seiner Gartenstadt seit Jahrzehnten selbstverständlich ist, was in herkömmlichen Siedlungsgebieten bis heute fehlt: nämlich dass sich Kinder in ihrem Wohnumfeld frei und ungefährdet bewegen können. Doch ist das bei Weitem nicht das Einzige, was die in einem Zeitraum von 35 Jahren in zwei Bauabschnitten realisierte Siedlung von der Masse des hierzulande Geplanten, Geförderten und Gebauten abhebt – und sie zu einer der wenigen heimischen Best Practices des modernen Wohn- und Städtebaus von internationaler Bedeutung macht.
„Mein Vater beschäftigte sich schon während seines Studiums in den frühen 1930er-Jahren mit Verbesserungsmöglichkeiten im sozialen Wohnbau“, weiß Johanna Rainer, die selbst Architektin ist und gemeinsam mit Roland Rainer dessen letzte Siedlung in St. Pölten plante. „Anfang der 1950er, also noch lange vor jeder Umweltbewegung, baute er in Niederösterreich, in Mannersdorf, eine Ökosiedlung, wobei seine besondere Hinwendung den Gärten galt. Selbst etwas pflanzen zu können, es gedeihen zu sehen und daran den Wechsel der Jahreszeiten mitzuerleben war für ihn essenziell für die Entwicklung vor allem junger Menschen.“Weitere Prototypen Rainers waren eine frühe Fertighausanlage als Modell für kostengünstiges Bauen, die er mit Carl Auböck in der Wiener Veitingergasse schuf, und seine erste verdichtete Flachbausiedlung am Maurer Berg, Wien-Liesing, mit 60 fußläufig erschlossenen Reihenhäusern auf bis zu 200 Quadratmeter kleinen Parzellen – also einem Fünftel der sonst üblichen Grundstücksfläche hiesiger Einfamilienhäuser.
Das 27 Hektar große Areal im Linzer Vorort Puchenau erlaubte ihm schließlich, all diese Ansätze in einem Projekt von der Dimension eines ganzen Stadtteils zusammenzuführen: boden- und energiesparender Städtebau, leistbares, weil vorfabriziertes Bauen sowie ein Wohnen mit der Natur und frei von Autos. So war es etwa ganz im Sinne Rainers, dass der unmittelbar an der Donau gelegene Standort durch die vorbeiführende Mühlkreisbahn vom öffentlichen Verkehr erschlossen und nicht vom Autoverkehr abhängig ist. Innerhalb von nur zwei Jahren entstand ab 1965 die im Stil der Moderne gestaltete Gartenstadt I mit 245 Wohneinheiten. Dreigeschoßige Mietwohnbauten schirmen seither mit ihren Nebenräumen die Siedlung gen Norden vor dem Lärm der Bahn und der parallel verlaufenden Bundesstraße ab. Südseitig verfügen sie über großzügige Terrassen, Loggien und Balkone sowie gemeinschaftliche Grünflächen. Daran anschließend folgen auf Parzellen von 105 bis 270 Quadratmetern zweigeschoßige Reihenhäuser und – ihnen vorgelagert – ebenfalls aneinandergebaute eingeschoßige Bungalows, alle ganz schlicht und weiß, mit Flachdächern und kleinen Gärten.
Offenbar reicht eine Gartengröße zwischen 50 und 150 Quadratmetern völlig aus, damit Menschen ihren Grünraum- und Erholungsbedarf stillen und ihren Gestaltungswillen ausleben können: Von der wildromantischen Blumenwiese mit Biotop und Hängematte über den Nutzgarten mit Obstbäumen und Gemüsebeeten bis hin zur akkuraten japanischen Gartenkunst findet sich in Puchenau so ziemlich alles – selbst das Modell Zierrasen mit Thujen und Swimmingpool ist hier vertreten. Fragt man die Bewohner, so wünscht sich niemand einen größeren Grünraum – im Gegenteil: Mehr Rasenfläche würde nur mehr Arbeit bedeuten. Auch die Erschließung der Gartenstadt I beschränkt sich auf geringstmöglichen Flächenverbrauch, zumal sie ausschließlich durch schmale, jedoch beidseitig begrünte Fußwege erfolgt. Die Autos sind in Sammelgaragen am Rand der Siedlung untergebracht – und kein Puchenauer bedauert, dass sein Wagen nicht unmittelbar neben der Haustür steht. Damit die Bewohner dennoch wettergeschützt zu ihren Häusern gelangen, hat Roland Rainer einen Teil des Wegenetzes mit Flugdächern ausgestattet.
Charakteristisch für die ebenerdigen Häuser ist ihre konsequente Ausrichtung auf die innen liegenden Gartenhöfe. Um trotz der dichten Bebauung ein Höchstmaß an Ruhe und Privatheit zu gewährleisten, sah Roland Rainer an den außen liegenden Fassaden so gut wie keine Fenster vor – und schützte die Gärten, so sie nicht ohnehin vollständig von Hausmauern umgeben waren, durch 1,80 Meter hohe Gartenmauern vor störenden Einblicken und Lärm. Im Inneren dagegen herrscht weitestgehende Offenheit: Alle Räume sind mit großen Fenstern zum Grün hin orientiert und erhalten Sonnenlicht aus Süden und zum Teil auch aus Osten und Westen. „Mein Vater betrachtete den Garten als Erweiterung der Wohnung“, erklärt Johanna Rainer, „und man merkt an jedem seiner Häuser den fließenden Übergang zwischen Innen- und privatem Außenraum.“Die Wohnzimmer etwa stattete der Architekt über die gesamte Breite mit beinahe raumhohen Glaselementen aus, für die er bewusst keine Vorhänge vorsah, um den Bezug zum Grün nicht einzuschränken.
So zufrieden die Bewohner der Gartenstadt waren und sind – die Bevölkerung der Umgebung kam anfangs nur schwer damit zurecht. Im Oberösterreich der 1960er bedeuteten fensterlose Häuser ohne Satteldach, umfriedet von mannshohen Mauern aus Sichtbeton, geradezu einen Kulturschock. Zumal die Siedlung in den ersten Jahren auch noch nicht von üppigem Grün eingewachsen war, trug Puchenau I bald den drastischen Beinamen „Rainer-KZ“. Bezeichnend für diese Meinungsbildung ist, dass sie – wie in vielen Fällen laienhafter oder auch professioneller Architekturkritik – ohne Kenntnis des Urteils der Nutzer erfolgte. Diese gaben dem Rainer’schen Konzept recht, indem sie etliche Gartenmauern durch Holzlatten oder Blumentröge sogar noch erhöhten, um die Intimität ihrer Höfe zu verstärken.
„Ich kann mich gut erinnern, dass ich während meiner Schulzeit eine Führung durch die Gartenstadt I hatte, wobei mir nicht mehr bewusst ist, ob wir sie als positives oder abschreckendes Beispiel gezeigt bekommen haben“, erzählte der kürzlich verstorbene Bautechniker Reinhold Eglauer gern über seine erste Begegnung mit Rainers Wohnbau. „Ich dachte mir jedenfalls: , Da möchte ich nicht wohnen!‘ Man hatte ja gehört, wie arm die Leute sind, die in Puchenau leben müssen.“1978 fand sich Reinhold Eglauer in Puchenau wieder – als Bauleiter der Wohnbaugesellschaft an der Seite Roland Rainers, um bis ins Jahr 2000 die Errichtung der Gartenstadt II zu begleiten. 1980 schließlich entschied er sich mit seiner Frau, hier einen Bungalow zu kaufen und ihre beiden Kinder in Puchenau großzuziehen. Woanders wohnen wollte Reinhold Eglauer zeit seines Lebens nicht mehr.
750 Wohneinheiten sind im zweiten Bauabschnitt etappenweise entstanden, wobei Rainer stets bemüht war, aus Gesprächen mit den Bewohnern Erfahrungswerte zu ge- winnen und für die Neuplanung zu nutzen. So unterscheidet sich die Gartenstadt II von der Gartenstadt I vor allem durch eine weniger lineare Wegführung und einen großzügigeren öffentlichen Raum. Neben kleineren Plätzen und Grünflächen gibt es hier auch einen großen Park in der Mitte sowie eine zentrale Promenade, die durch die gesamte Siedlung mäandriert. Sie dient nicht nur Einsatzfahrzeugen und der Müllabfuhr, sondern wird genauso für gemeinsame Straßenfeste, zum Radfahren oder Spielen genutzt.
Auch die ökonomischen, technischen und baurechtlichen Veränderungen seit den 1960ern sind im jüngeren Teil ablesbar: Die Randbebauung im Norden ist hier bis zu fünf Stockwerke hoch und nimmt in den Kellergeschoßen die Bewohnerparkplätze auf. Viele der Reihenhäuser wiederum zeigen Solaranlagen auf den Dächern. Das Grundprinzip der Gartenstadt blieb aber über vier Jahrzehnte hinweg unverändert.
Die städtebauliche Einheitlichkeit sagt freilich nichts über die Individualität des Wohnens in Puchenau aus: An die 30 verschiedene Haus- und Wohnungstypen mit Wohnflächen zwischen 53 und 130 Quadratmetern finden sich in der Gartenstadt. Und da die Wohnungen im Inneren frei sind von tragenden Wänden, ermöglichen sie ihren Eigentümern oder Mietern weitestgehende Flexibilität in der Grundrissgestaltung. Von Anfang an ergänzte Rainer die Wohnbebauung sukzessive auch durch andere Einrichtungen wie einen Kindergarten, eine Schule und eine Kirche mit Pfarrzentrum, die ein bis heute lebendiges Stadtteilzentrum bilden. Auch Geschäfte, Ärzte und eine Apotheke, ein Feuerwehrhaus und andere Funktionen machen Rainers Puchenau zu mehr als nur einer Schlafstadt. Allein die von ihm angestrebten Arbeitsplätze gelang es bisher nicht, hier anzusiedeln.
Immer wieder ließ der Architekt seine Gartenstadt auch wissenschaftlich analysieren. Dabei zeigte sich, dass sich die Baukosten selbst bei den ebenerdigen Bungalows im Rahmen des herkömmlichen Geschoßwohnungsbaus bewegten – eine Folge dessen, dass Rainer seine Bauten bis ins kleinste Detail auf Einsparungsmöglichkeiten hin durchdachte. Volkswirtschaftlich betrachtet, schnitt die Gartenstadt noch überzeugender ab. Der Vergleich mit einer nördlich angrenzenden Einfamilienhaussiedlung ergab, dass die Parzellen dort mehr als fünfmal so groß sind. Dementsprechend beliefen sich die Kosten für die Straßenerschließung auf das Dreieinhalbfache jener der Gartenstadt. Ähnliches galt für die Versorgung mit Wasser, Gas, Strom und Kanalisation.
Die Studien attestierten den Menschen in der Gartenstadt auch eine signifikant geringere Freizeitmobilität. In einem zu Vergleichszwecken herangezogenen Hochhaus in Linz verbrachten die Bewohner damals ihre Wochenenden nur zu 23 Prozent daheim. Dagegen blieben die Bewohner der Bungalows in Puchenau an Wochenenden zu 73 Prozent zu Hause – und stiegen nicht ins Auto, um die Siedlung zu verlassen. Demnach hätte Roland Rainers Konzept eigentlich ein massenhaft angewandtes Erfolgsmodell werden müssen, doch konnte Rainer keine einzige weitere Gartenstadt realisieren, lediglich einige deutlich kleinere Flachbausiedlungen. Und auch andere österreichische Architekten, die Ähnliches schufen, lassen sich an einer Hand abzählen.
Fragt man Politiker und Wohnbauträger, warum es insbesondere am Stadtrand nicht viel mehr verdichtete Flachbausiedlungen gibt, hört man auch heute noch: „So etwas wollen die Leute nicht.“Dies kann seitens der Politik nur als feiger Opportunismus und seitens der Wohnbauwirtschaft als bequemes Verharren auf der Mittelmäßigkeit ihrer Produkte gewertet werden. In beiden Fällen zeugt es von Verantwortungslosigkeit, die Siedlungsentwicklung so weiterlaufen zu lassen wie bisher. „Wenn wir verantwortlich handeln, müssen wir an die Zukunft denken“, forderte Roland Rainer mit über 90 Jahren. „Und dazu gehört nicht nur, daran zu denken, was wir in Zukunft noch alles erreichen können, sondern auch was wir für die Zukunft bereits alles ruiniert haben. Und das ist nicht wenig! Insofern dürften wir vieles heute nicht mehr tun.“
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