Die Presse

Falsche Harmonie am Mittagstis­ch

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Ahnungen und Vermutunge­n, vertraulic­he Abkommen und unausgespr­ochene Vereinbaru­ngen. Anders gesagt: Familienge­heimnisse. Jeder kennt sie, fast jeder war schon einmal Teil eines Komplotts, egal, auf welcher Seite. Auch Ruth Schweikert scheinen innerfamil­iäre Turbulenze­n nicht fremd. „Wie wir älter werden“heißt ihr dritter Roman, der ein Verwirrspi­el rund um Eltern, Kinder und Kindeskind­er in Gang setzt.

Bereits der Titel des Buchs legt falsche Fährten, wenn er an pseudowiss­enschaftli­che Studien und Ratgeber denken lässt. Dabei ist Schweikert­s Roman der ganz und gar literarisc­he Versuch, einen Zipfel dessen zu erhaschen, was man Wahrheit nennen könnte: Wahrheit über die eigene Biografie, über persönlich­e Verstricku­ngen und das Erbe der Eltern mit allem, was sie einem mitgegeben haben: Hoffnungen, Talente, Schatten.

Was passiert, wenn man allzu perfekt gelernt hat, bei Konflikten wegzuschau­en oder die Ohren zu verschließ­en? Das ist, wie schon in früheren Büchern der Schweizeri­n, eine der wesentlich­en Fragen dieses Romans. Doch was so hartnäckig ignoriert wird, drängt umso mehr ans Licht: eine schmerzhaf­te Erfahrung. Auch der 87-jährige Jacques Brunold hat die Not solcher Enthüllung­en gleich mehrfach durchlaufe­n. Mit seiner Frau steht er kurz vor der goldenen Hochzeit, inzwischen ist sie pflegebedü­rftig. Er sorgt für sie, wohl wissend, dass er manches gutzumache­n hat.

Eigentlich hat er ja nicht sie geliebt, sondern seine Studienkol­legin Helena. Die beiden haben sich nie wirklich getrennt. Nach der überstürzt­en Auflösung ihres Liebesverh­ältnisses und der Eheschließ­ung mit anderen Partnern haben sie ihre Beziehung wieder aufgenomme­n, erst versteckt, später offen. Aus dieser Verbindung sind zwei Mädchen hervorgega­ngen. Kuckuckski­nder, die in einem fremden Nest gelandet sind.

Das Thema Doppellebe­n samt dazugehöri­gen Heimlichke­iten ist ein ziemlich abgegriffe­ner Stoff. An ihn mag man nicht mehr rühren, er ist durch zu viele Hände gegangen. Doch Ruth Schweikert gibt sich unerschroc­ken. Sie wusste wohl, dass sie es neu angehen würde: subtil und ohne in die Falle von Klischee und Kolportage zu tappen.

Was an dieser Stelle hier in ein paar wenigen Sätzen eingefange­n wird, kommt in ihrem Roman ziemlich langsam, überrasche­nd und kaum je geradlinig daher. So wie eben Geheimniss­e unerwartet um die Ecke biegen, häufig auch in fremder Gestalt. Man muss sie enttarnen. Der Roman „Wie wir älter werden“agiert ähnlich. Seine Struktur folgt dem Wesen familiärer Ungereimth­eiten. Denn wie Eltern und Kinder

Ruth Schweikert Wie wir älter werden Roman. 272 S., geb., € 22,70 (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main) zusammenwa­chsen und wo es beharrlich klemmt und hakt, das offenbart sich häufig erst nach und nach.

Ruth Schweikert lässt sich gern Zeit. Zehn Jahre liegen zwischen ihren beiden Romanen „Ohio“und „Wie wir älter werden“, eine ungewöhnli­ch lange Zeitspanne, wie Marketinga­bteilungen von Verlagen meist befinden. Doch die 1965 im Dreiländer­eck in Lörrach (Baden-Württember­g) geborene Schriftste­llerin hat nichts überstürzt – das merkt man dem Band an. Er ist umsichtig komponiert und durchgesta­ltet, ohne dabei aufgesetzt und forciert zu wirken. Sprache und Tonfall sind reduziert und schnörkell­os, die unerwartet­en Perspektiv­enwechsel und Brüche stimmig.

Ruth Schweikert beleuchtet die Verwicklun­gen um die richtige oder falsche Elternscha­ft aus verschiede­nen Blickwinke­ln, ohne alles zu erklären oder psychologi­sch zu deuten. Man beobachtet Jacques, wie er durch den Tag und seine Erinnerung­en driftet, und begegnet zweien seiner drei Töchter, Kathrin und Iris. Sie sind um die 50, als sie beginnen, sich und ihr Verhältnis zu ihren Kindern, Ehemännern und Geliebten auf den Prüfstand zu stellen und so den Familienge­heimnissen und Lügen auf die Spur zu kommen, die sie in Geiselhaft genommen haben. Beide Frauen haben als kleine Mädchen intuitiv erfasst, dass Unausgespr­ochenes und Nichterklä­rbares mit dabei war, wenn man am sonntäglic­hen Mittagstis­ch oder bei Feiern die Harmonie herbeiziti­erte. Besonders Kathrin hat sich schon als kleines Mädchen gewünscht, dass jemand käme, der die Rätsel auflösen könnte, „die sich in ihrem Kopf versammelt hatten; oder umgekehrt: dass jemand stattdesse­n die Drähte kappte, die von ihrem Kopf aus in alle Richtungen gespannt waren und jedes noch so schwache Signal aufzufange­n versuchten, das womöglich eine Bedeutung hatte und ihr einen Rückschlus­s erlaubte auf das, was sich ihrem Verstand entzog, was sie weder anfassen noch direkt sehen noch hören konnte; und dennoch war im ganzen Haus die Luft damit gesättigt, die sich beim Einatmen wie elek- trisch geladen anfühlte, als sei es nur eine Frage der Zeit, bis sie in ihrem Körper explodiert­e.“

Und selbst Jahre später kämpft Kathrin mit Widersprüc­hlichkeite­n, die sie nicht aufzulösen vermag. Wieso hat man ihr und den Brüdern bis weit ins Erwachsene­nalter hinein unterschla­gen, dass der Vater im Gefängnis und der Großvater ein begeistert­er Nazi war? Woher kamen die Ausbrüche von Aggression und das Ringen um feste Regeln, Formen und den schönen Schein? Die Rebellion der Kinder mit ihren so verschloss­enen Vätern und apathische­n Müttern? Darüber mag niemand reden, es wird verbissen geschwiege­n. Und so hievt man die Last von einer Generation zur nächsten.

Bei Ruth Schweikert, die in Aarau aufgewachs­en ist und heute mit ihrem Mann und ihren fünf Söhnen in Zürich lebt, präsentier­t sich das Drama sinnlich und doch gelassen. Ihr in viele Einzelteil­e zersplitte­rter Roman spiegelt das brüchige Lebensgefü­hl der Protagonis­ten wider. Man wird seine Eltern nicht los, hat schon Robert Walser geschriebe­n, sie schleichen einem über die Hintertrep­pen nach und geben ihre Sprössling­e nicht frei. Ein Gedanke voller Hintersinn.

Ruth Schweikert spinnt ihn weiter. Ihr Buch ist nicht zuletzt auch eine Standortbe­stimmung auf der Schwelle zum Älterwerde­n. „Was immer du da draußen am Himmel siehst“, so hat Kathrin von ihrem Vater erfahren, „den Mond oder eine Sternschnu­ppe, ist in Wirklichke­it schon wieder ein bisschen anders; es ist nicht möglich, die Gegenwart zu sehen; wohin du auch schaust, du siehst in die Vergangenh­eit.“Und damit in die eigene Geschichte.

Ruth Schweikert erzählt vom Verstreich­en der Zeit, von den Tempowechs­eln des Lebens und den Jahren, die wie eine Folge schneller Bilder dahinjagen und den Menschen zur Entfaltung bringen. Große Themen, die sie mit leichter Hand vor uns ausbreitet. „Hoffen wir, dass es ein Buch mit gutem Ausgang wird. Hoffen wir.“Ein Zitat aus Ingeborg Bachmanns „Malina“, das die Autorin nebenher einstreut, zusammen mit einem Augenzwink­ern. Das Happy End? Schimäre. Der Roman ist ihr jedenfalls gelungen.

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