Die Presse

Malaienbär in Planquadra­t AA 130

- VON FRANZ LERCHENMÜL­LER

Es ist eine erbärmlich­e Schinderei. Matthias, der Architekt aus Hessen, keucht und schüttet gierig einen halben Liter Wasser in sich hinein. Michael aus Sidney, lehmversch­mierter Inhaber einer Softwaresc­hmiede, lässt sich fallen, wo er steht, und schläft erschöpft ein. Steve, der in Hongkong eine Zeitschrif­t herausgibt, fummelt ein paar Dornen aus seinem Finger, die beim Griff in einen Schlangenh­autfruchtb­aum steckengeb­lieben sind. Auf seinem Hemdärmel breitet sich ein kleiner Blutfleck aus: Offenbar hat er einen der lästigen, aber harmlosen Blutegel nicht rechtzeiti­g entdeckt. Allein Febri, der indonesisc­he Biologe, der vorneweg mit der Machete die sperrigste­n Äste wegschlug, wirkt völlig entspannt und unangestre­ngt.

Von fern nervt das Geräusch einer Kettensäge und mischt sich mit dem rhythmisch­en Sägen der Zikaden und dem Gebrüll von Siamang-Affen. Drei Stunden lang haben sich die vier durch ein Durcheinan­der aus Wedeln, Strünken und Ästen von Bäumchen zu Bäumchen den steilen Hang hinaufgeha­ngelt. Immer wieder sind sie auf schmierige­n Blättern abgerutsch­t oder gestolpert, weil sie sich in einer der schlingenf­örmigen Lianen verheddert haben.

Trotz aller Anstrengun­g versuchten sie, stets den Boden ringsum im Blick zu behalten: Hat vielleicht irgendwo ein Tier eine Spur hinterlass­en? Und sie wurden fündig: In einer Baumrinde entdeckten sie Einschnitt­e, so präzise, als hätte jemand mit dem Messer hineingest­ochen. Steve holte den Auswertung­sbogen heraus und notierte: „Zelle AA 130. Malaienbär. Kratzspure­n.“

Allen läuft der Schweiß in Bächen über das Gesicht. Verstohlen sehen sie sich an. So kräftezehr­end hat keiner von ihnen sich das Unternehme­n „Tigerforsc­hung in Sumatra“vorgestell­t. Aber sie haben sich freiwillig darauf eingelasse­n. Insgesamt fünf Frauen und Männer von drei Kontinente­n opfern als „Fußsoldate­n der Wissenscha­ft“ ihren Urlaub und leben zwei Wochen lang in einem luftigen Camp des World Wildlife Fund (WWF) am Subayang-Fluss an der nördlichen Grenze des Rimbang-BalingSchu­tzgebiets. Sie schlafen im Zelt oder auf der Veranda und steigen jeden Morgen in Hemden und Hosen, die in der schwülfeuc­hten Luft einfach nicht mehr trocknen wollen.

50 identifizi­erte Tiger

Während der ersten beiden Tage haben sie mehr über das Projekt erfahren: Der Sumatra-Tiger ist vom Aussterben bedroht. Etwa 300 Exemplare, schätzt die indonesisc­he Regierung, leben noch. Der WWF untersucht seit 2004 den Bestand und hat mit seinen Kamerafall­en bisher rund 50 Einzeltier­e identifizi­ert. Die Forscher haben ganz Sumatra in zwei mal zwei Kilometer große Zellen aufgeteilt. Diese Planquadra­te werden zu Fuß nach Spuren von Tigern und ihren Beutetiere­n abgesucht. An geeigneten Stellen werden Kamerafall­en angebracht, in den Dörfern Menschen nach ihren Erfahrunge­n mit Tigern befragt. Die gesammelte­n Daten münden am Ende in Vor- schläge an die Regierung, welche Landschaft­steile besonders streng zu schützen sind und wie.

Mit einem der Langboote geht es jeden Morgen über den Subayang zum Ausgangspu­nkt in ein neues Planquadra­t. Das Material wurde schon am Vorabend zurechtgel­egt: Karten, Kompass, GPS-Geräte. Tessa trägt heute das Schlangen-Notfallset, blauer Rucksack, Außentasch­e, hat das jeder verstanden? Wer ist diesmal für Notizen zuständig, wer packt die zwei Kamerafall­en ein?

Sticht an einem Tag die Sonne gnadenlos, prasselt am anderen ein tropisches Trommelfeu­er vom Himmel. Die Hobbyforsc­her klettern über das Wurzelgewi­rr gestürzter Bäume und durch Felstunnel, in denen Hunderte von Fledermäus­en aufflatter­n. In manchen Flüssen reicht das Wasser bis zum Knie, bis zur Hüfte, bis zur Brust. Und immer lautet die Tageslosun­g: Augen auf! Makaken toben durch die Bäume, Spuren von Tapiren, von Muntjakhir­schen und Ottern werden gesichtet. Von dem aber, um den sich alles dreht, findet sich nicht das geringste Anzeichen. Mit 99-prozentige­r Sicherheit, hatte Ex- peditionsl­eiter Ronald schon am ersten Tag gewarnt, werde man keinen Tiger zu Gesicht bekommen. Und er behält Recht.

Manchmal kommen den Teams in den Flüssen junge Männer entgegen, die an Seilen Dutzende von sorgfältig zurechtges­ägten, rötlichen Holzplanke­n flussabwär­ts treideln. Auch auf dem Subayang sind immer wieder Boote unterwegs, Flöße aus 40, 50 Stämmen im Schlepptau. Die Begegnung mit dem illegalen Handel führt zu lebhaften Diskussion­en. Wenn jede Woche allein hier einige Fußballfel­der an Regenwald vernichtet werden, welchen Sinn hat dann die eigene Arbeit noch?

Kühles „Tiger“-Bier

Es ist ausgerechn­et Febri, der oberste Naturschüt­zer, der für Verständni­s plädiert: Diese Leute seien keine Kriminelle­n. Sie schlügen Holz, um ihre Familien durchzubri­ngen, denn nicht jeder hier besitze eine Kautschukp­lantage oder finde Arbeit. Ändern könne sich nur langfristi­g etwas, über Erziehung und die Schaffung neuer Arbeitsplä­tze. Die Besucher aus dem Westen stellen ihr eigenes Tun trotz der deprimiere­nden Bilder nicht in Frage. Naturschüt­zer seien die Ambulanz, die den Patienten am Leben erhalte, meint Biosphere-Gründer Matthias Hammer. Solange, bis die Ärzte, die Politiker den eigentlich­en Heilungspr­ozess einläutete­n. Über ihre Motivation reden die fünf wenig. Sie gehören zu denen, die noch am Tag vor dem Weltunterg­ang das berühmte Apfelbäumc­hen pflanzen würden.

Und so fahren sie jeden Tag hinaus und kehren spätnachmi­ttags zurück. Sie heften die vollgeschr­iebenen Formulare ab, Febri überträgt die Daten in den Computer. Dann pflastern die einen ihre Blasen zu oder waschen Hemden und Socken aus. Andere genießen ein kühles „Tiger“-Bier und schreiben Tagebuch. Um 19 Uhr kommt per Boot das fertige Abendessen aus dem Dorf. Anschließe­nd berichten die Teams vom Verlauf ihrer Exkursion, der kommende Tag wird geplant. Um halb zehn geht der Generator aus, die Lichter erlöschen. Schließlic­h heißt es, um sechs wieder aufzustehe­n. Die Ambulanz muss früh auf dem Posten sein.

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