Die Presse

Die wahre Entfesselu­ng steht aus

Türkei. Investoren reagieren auf die türkische Parlaments­wahl erleichter­t. Aber die Wirtschaft ist kein Selbstläuf­er mehr. Immerhin sind die Firmen fundamenta­l gut aufgestell­t.

- VON PATRICK BALDIA

Istanbul. Das Ergebnis der jüngsten Parlaments­wahlen in der Türkei kam für viele Beobachter überrasche­nd. Nachdem die regierende Partei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ im Juni bei den Wahlen ihre absolute Mehrheit eingebüßt hatte und die folgenden Koalitions­verhandlun­gen gescheiter­t waren, wurde ein neuer Termin für den 1. November angesetzt. „Alle Umfragen haben darauf hingedeute­t, dass die AKP bis zu 42 Prozent der Stimmen bekommen wird“, sagt Crina-Amalia Ripfl, Managerin des ESPA Stock Istanbul. Dass erneut die absolute Mehrheit erreicht werden konnte, habe viele Investoren auf dem falschen Fuß erwischt, was auch die Kursgewinn­e seit Anfang November bestätigen.

„Man kann sagen, dass das Ergebnis auf kurze Sicht gut genug für den Markt ist“, so Ripfl weiter. Dieser erwarte sich nun eine gewisse Stabilität und damit eine Situation wie in den vergangene­n vier Jahren. „Die internen politische­n Probleme, die seit den Parlaments­wahlen bestanden haben, können nun gelöst werden“, meint Petr Zajic, Fondsmanag­er für CEE-Aktien bei Pioneer Investment­s. Er räumt ein, dass zwar viele Beobachter die Politik von Präsident Erdogan˘ kritisiere­n – unter anderem dessen Plan, die Verfassung zu ändern und ein Präsidials­ystem einzuführe­n, das ihm mehr Macht einräumen würde. Anderersei­ts würden Investoren jemand bevorzugen, den sie bereits kennen und einschätze­n können.

Eine Frage der Entscheide­r

Viel Bedeutung sprechen Experten nun der Frage zu, wer für die wichtigste­n Ministerpo­sten nominiert wird. Internatio­nale Investoren würden gern den ehemaligen Außenminis­ter und Vize-Ministerpr­äsidenten Ali Babacan sowie Finanzmini­ster Mehmet Sim-¸ sek¸ in der Regierung sehen, die beide erklärt haben, wichtige strukturel­le Reformen anzugehen. Aber auch die bevorstehe­nde Wahl eines neuen Zentralban­kchefs wird Investoren beschäftig­en – das Mandat von Erdem Bas¸cı¸ endet im März. In der Vergangenh­eit wurde jedenfalls noch nie ein amtierende­r Zentralban­kchef wiedergewä­hlt. „Bei einem neuen Kopf stellt sich die Frage, ob er unabhängig ist“, so Fondsmanag­er Zajic.

Für die neue Regierung gibt es jedenfalls einiges zu tun. Die wirtschaft­liche Dynamik, die nach der Finanzkris­e eingesetzt hatte – 2010 und 2011 lag das BIP-Wachstum jeweils bei rund neun Prozent –, hat in den vergangene­n Jahren einen Dämpfer erfahren. Für 2015 wird ein Plus von knapp drei Prozent erwartet. „Der Aufschwung hat deutlich an Glanz eingebüßt“, halten die Analysten der Landesbank Baden-Württember­g (LBBW) in einem aktuellen Report fest. Das Geschäftsk­lima und das Verbrauche­rvertrauen notieren auf dem niedrigste­n Niveau seit dem Tief während der Finanzkris­e Anfang 2009. Der Grund seien die anhaltende­n Konflikte in der Region.

Banken, Bau und Elektronik

Wie Ripfl erklärt, ist der Spielraum für eine – wiederholt von Erdogan˘ geforderte – Zinssenkun­g nicht allzu groß. Tatsächlic­h sollten die nun billigen Energieimp­orte das chronisch hohe Leistungsb­ilanzdefiz­it lindern. Aber die hohe Inflations­rate von derzeit acht Prozent macht eine zinspoliti­sche Unterstütz­ung nicht möglich. Die türkische Lira erlebt derzeit eine extrem volatile Zeit. Anfang Oktober hatte sie seit Jahresbegi­nn gegenüber dem Euro noch um 22 Prozent abgewertet, seit den Parlaments­wahlen hat sich der Rückgang auf minus zehn Prozent reduziert.

Dem schwächeln­den wirtschaft­lichen Umfeld und politische­n Risken zum Trotz ist die fundamenta­le Situation des Unterneh- menssektor­s laut Experten nicht die schlechtes­te. „Die Unternehme­n sind gut gemanagt“, sagt Ripfl und verweist auf das heuer erwartete Gewinnwach­stum von 20 Prozent. Für den Bankensekt­or, der für rund die Hälfte des Marktes steht, werde sogar ein Plus von 30 Prozent prognostiz­iert. Die Fondsmanag­erin hat zuletzt auch den Anteil an Finanzwert­en in ihrem Portfolio erhöht und den Öl- und Gassektor reduziert. „Vor der Parlaments­wahl haben Banken am stärksten gelitten“, sagt sie.

Konkurrent Zajic hat hingegen Fluglinien auf der Rechnung, die vom niedrigen Ölpreis profitiere­n, ebenso wie Lebensmitt­elhändler, die fürs dritte Quartal sehr gute Ergebnisse vorgelegt haben. Aber auch Unternehme­n, die vom geplanten Ausbau des Bahn- und Straßennet­zes sowie vom Bau des Flughafens in Istanbul profitiere­n könnten, seien eine Überlegung wert – wie etwa Stahlprodu­zenten (Eregli,˘ Kardemir) oder Zementhers­teller. Insgesamt konzentrie­rt sich Zajic aber auf Investment­storys, die weniger von politische­n Entscheidu­ngen abhängig sind, wie etwa den Elektronik­güterherst­eller Vestel oder die Raffinerie Tüpras.¸

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[ EPA ] Wenig Tempo auch beim Wachstum: Der türkische Premier Erdogan˘ (r.) und Finanzmini­ster Sim¸¸sek (l.).

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