Die wahre Entfesselung steht aus
Türkei. Investoren reagieren auf die türkische Parlamentswahl erleichtert. Aber die Wirtschaft ist kein Selbstläufer mehr. Immerhin sind die Firmen fundamental gut aufgestellt.
Istanbul. Das Ergebnis der jüngsten Parlamentswahlen in der Türkei kam für viele Beobachter überraschend. Nachdem die regierende Partei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ im Juni bei den Wahlen ihre absolute Mehrheit eingebüßt hatte und die folgenden Koalitionsverhandlungen gescheitert waren, wurde ein neuer Termin für den 1. November angesetzt. „Alle Umfragen haben darauf hingedeutet, dass die AKP bis zu 42 Prozent der Stimmen bekommen wird“, sagt Crina-Amalia Ripfl, Managerin des ESPA Stock Istanbul. Dass erneut die absolute Mehrheit erreicht werden konnte, habe viele Investoren auf dem falschen Fuß erwischt, was auch die Kursgewinne seit Anfang November bestätigen.
„Man kann sagen, dass das Ergebnis auf kurze Sicht gut genug für den Markt ist“, so Ripfl weiter. Dieser erwarte sich nun eine gewisse Stabilität und damit eine Situation wie in den vergangenen vier Jahren. „Die internen politischen Probleme, die seit den Parlamentswahlen bestanden haben, können nun gelöst werden“, meint Petr Zajic, Fondsmanager für CEE-Aktien bei Pioneer Investments. Er räumt ein, dass zwar viele Beobachter die Politik von Präsident Erdogan˘ kritisieren – unter anderem dessen Plan, die Verfassung zu ändern und ein Präsidialsystem einzuführen, das ihm mehr Macht einräumen würde. Andererseits würden Investoren jemand bevorzugen, den sie bereits kennen und einschätzen können.
Eine Frage der Entscheider
Viel Bedeutung sprechen Experten nun der Frage zu, wer für die wichtigsten Ministerposten nominiert wird. Internationale Investoren würden gern den ehemaligen Außenminister und Vize-Ministerpräsidenten Ali Babacan sowie Finanzminister Mehmet Sim-¸ sek¸ in der Regierung sehen, die beide erklärt haben, wichtige strukturelle Reformen anzugehen. Aber auch die bevorstehende Wahl eines neuen Zentralbankchefs wird Investoren beschäftigen – das Mandat von Erdem Bas¸cı¸ endet im März. In der Vergangenheit wurde jedenfalls noch nie ein amtierender Zentralbankchef wiedergewählt. „Bei einem neuen Kopf stellt sich die Frage, ob er unabhängig ist“, so Fondsmanager Zajic.
Für die neue Regierung gibt es jedenfalls einiges zu tun. Die wirtschaftliche Dynamik, die nach der Finanzkrise eingesetzt hatte – 2010 und 2011 lag das BIP-Wachstum jeweils bei rund neun Prozent –, hat in den vergangenen Jahren einen Dämpfer erfahren. Für 2015 wird ein Plus von knapp drei Prozent erwartet. „Der Aufschwung hat deutlich an Glanz eingebüßt“, halten die Analysten der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) in einem aktuellen Report fest. Das Geschäftsklima und das Verbrauchervertrauen notieren auf dem niedrigsten Niveau seit dem Tief während der Finanzkrise Anfang 2009. Der Grund seien die anhaltenden Konflikte in der Region.
Banken, Bau und Elektronik
Wie Ripfl erklärt, ist der Spielraum für eine – wiederholt von Erdogan˘ geforderte – Zinssenkung nicht allzu groß. Tatsächlich sollten die nun billigen Energieimporte das chronisch hohe Leistungsbilanzdefizit lindern. Aber die hohe Inflationsrate von derzeit acht Prozent macht eine zinspolitische Unterstützung nicht möglich. Die türkische Lira erlebt derzeit eine extrem volatile Zeit. Anfang Oktober hatte sie seit Jahresbeginn gegenüber dem Euro noch um 22 Prozent abgewertet, seit den Parlamentswahlen hat sich der Rückgang auf minus zehn Prozent reduziert.
Dem schwächelnden wirtschaftlichen Umfeld und politischen Risken zum Trotz ist die fundamentale Situation des Unterneh- menssektors laut Experten nicht die schlechteste. „Die Unternehmen sind gut gemanagt“, sagt Ripfl und verweist auf das heuer erwartete Gewinnwachstum von 20 Prozent. Für den Bankensektor, der für rund die Hälfte des Marktes steht, werde sogar ein Plus von 30 Prozent prognostiziert. Die Fondsmanagerin hat zuletzt auch den Anteil an Finanzwerten in ihrem Portfolio erhöht und den Öl- und Gassektor reduziert. „Vor der Parlamentswahl haben Banken am stärksten gelitten“, sagt sie.
Konkurrent Zajic hat hingegen Fluglinien auf der Rechnung, die vom niedrigen Ölpreis profitieren, ebenso wie Lebensmittelhändler, die fürs dritte Quartal sehr gute Ergebnisse vorgelegt haben. Aber auch Unternehmen, die vom geplanten Ausbau des Bahn- und Straßennetzes sowie vom Bau des Flughafens in Istanbul profitieren könnten, seien eine Überlegung wert – wie etwa Stahlproduzenten (Eregli,˘ Kardemir) oder Zementhersteller. Insgesamt konzentriert sich Zajic aber auf Investmentstorys, die weniger von politischen Entscheidungen abhängig sind, wie etwa den Elektronikgüterhersteller Vestel oder die Raffinerie Tüpras.¸