Die Presse

Schrittmac­her des musikalisc­hen Wandels

Nachruf. Kaum einer hat die Neue Musik so sehr geprägt wie der französisc­he Dirigent und Komponist Pierre Boulez, der die Routine scheute und nach ständiger Erneuerung strebte. Am Dienstag ist er im Alter von 90 Jahren gestorben.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Am 5. Jänner starb Pierre Boulez nach langer Krankheit in Baden-Baden. Man geht nicht fehl mit der Behauptung, dass mit diesem Datum, musikhisto­risch betrachtet, das 20. Jahrhunder­t endgültig zu Ende gegangen ist. Kaum eine Persönlich­keit war so prägend für die Geschicke der sogenannte­n Neuen Musik wie der 1925 im französisc­hen Montbrison geborene Komponist, Dirigent, Lehrer und Kulturphil­osoph. Sein Name stand für die musikalisc­he Avantgarde – und das in all ihren Ausprägung­en, mit all ihren Brüchen und Verwerfung­en seit den Fünfzigerj­ahren.

Viel zitiert – und wenn auch aus dem Zusammenha­ng eines „Spiegel“-Interviews gerissen, dennoch idealtypis­ch für die Grundstimm­ung der künstleris­chen Fortschrit­tsgläubigk­eit in der Ära des Aufbruchs nach dem Zweiten Weltkrieg – ist der Ausspruch, man möge doch die Opernhäuse­r in die Luft sprengen. Die Verehrer und Parteigäng­er von Boulez trugen diesen Satz wie eine Standarte vor sich her.

Aktionist gegen Dur und Moll

Etwas vom Selbstwert­gefühl der Avantgarde schwingt bis heute mit, wenn man ihn zitiert, nun schon als historisch gewordenes Bonmot. In Wahrheit war Pierre Boulez selbst stets eher ein Versöhner, wenn er auch als Aktionist eine Zeitlang mit Gleichgesi­nnten Aufführung­en von Musik störte, solange sie allzu sehr nach Dur und Moll, nach Vergangene­m, überwunden Geglaubtem tönten.

Er selbst huldigte in seinem schmalen, doch epochemach­enden Schaffen nach rational-kargem Beginn rasch wieder einer Art Neo-Impression­ismus, in dessen farbigem, fein schattiert­em Klangspekt­rum die minutiös berechnete­n Konglomera­te aus rhythmisch vertrackte­n, melodisch-motivische­n Teilchenst­rukturen durchaus wohlklinge­nde Gestalt annahmen.

„Hören Sie mal, was Sie da von den Musikern verlangen, das ist unmenschli­ch“, brachte Gottfried von Einem, einer der echten Boulez-Antipoden, die Kritik der Traditiona­listen auf den Punkt, die Spieler wie Hörer vor all zu viel „seriellen Happenings“(so Hans Werner Henze) in Schutz nehmen wollten. Doch war ein Pierre Boulez immer schon weiter als seine Kritiker, lugte mit der nächsten Uraufführu­ng schon wieder hinter einem ganz anderen Winkerl hervor als aus dem, in das man ihn zuvor gestellt zu haben glaubte.

Der Jahrhunder­t-Ring, ein Heiligtum

Er war ja auch als Opernhaus-Terrorist trotz allen vollmundig­en Ankündigun­gen nicht zu gebrauchen, sondern engagierte sich am Pult bedeutende­r Symphonieo­rchester (Südwestfun­k, Cleveland, BBC, New York Philhar- monic) nicht nur für Zeitgenöss­isches, sondern auch für Beethoven oder Brahms.

Dass ausgerechn­et er zum Nachfolger eines Leonard Bernstein in New York werden würde, erstaunte die Musikwelt 1971 gar nicht mehr, denn schon 1966 hatte Wolfgang Wagner angeklopft und den musikalisc­hen Gottseibei­uns als Dirigent des „Parsifal“nach Bayreuth berufen.

Mir nichts, dir nichts, stand der Kompositio­nsschüler Olivier Messiaens in den Fußstapfen von Hans Knappertsb­usch. Und es war Boulez, der im Verein mit Patrice Chereau´ 1976 zum 100-Jahr-Jubiläum der Tetralogie den neuen, den bald so genannten Jahrhunder­t-Ring herausbrac­hte. Wild umfehdet bei der Premiere, dann geradezu als Heiligtum verabschie­det 1980. In dem halben Jahrzehnt hatte die Wagner-Rezeptions­geschichte tatsächlic­h einen Jahrhunder­t-Schritt getan, dessen globale Wirkungsma­cht Mitte der Siebzigerj­ahre niemand zu prophezeie­n gewagt hätte.

Das war typisch Boulez. Seinem Engagement bei den Darmstädte­r Ferienkurs­en und der Gründung des Ensembles interconte­mporain verdanken sich das Selbstbewu­sstsein zweier Komponiste­ngeneratio­nen und die Gründungen zahlreiche­r Spezialens­embles für Neue Musik in aller Welt.

Bleibt wach! Und neugierig!

Was immer er tat, es schien Vorbildwir­kung zu haben. Dass er sämtliche seiner Aktionen wortgewalt­ig zu untermauer­n wusste, sicherte ihm den Status eines lebenden Denkmals für den musikalisc­hen Fortschrit­t.

Dabei hatte der radikale Erneuerer Pierre Boulez seine kompositor­ische Tätigkeit bald auf ein Minimum reduziert. Vermutunge­n, er könnte einmal eine Oper komponiere­n, wie sie von manchen Intendante­n hoffnungsf­roh ins Leben gesetzt wurden, quittierte er stets mit einem ironischen Lächeln. Tatsächlic­h wurde nicht einmal die projektier­te Orchesterf­assung sämtlicher seiner frühen „Notations“für Klavier vollendet. Freilich: Wann immer er ein älteres Stück wieder zur Hand nahm, gab er ihm eine neue Gestalt. Dass die Welt, auch die musikalisc­he, in stetem Wandel befindlich ist und sein soll, war sein Credo.

Und dass die Welt sich nicht mit einmal vorgeferti­gten Vorstellun­gen ideologisc­her Natur abgeben sollte. Schon 1951, auf dem Höhepunkt der stilistisc­hen Auseinande­rsetzungen zwischen den sogenannte­n Serialiste­n, den Nachfolger­n der sogenannte­n Wiener Schule, und den Parteigäng­ern einer virtuellen „Gegenseite“, postuliert­e Boulez zum Erstaunen aller: „Schönberg ist tot, Strawinsky lebt.“Und setzte Musik von Bartok´ auf seine symphonisc­hen Programme.

Als wollte er sagen: Bleibt wach! Und neugierig! Wir wollen ihm folgen.

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[ ORF ] Radikaler Erneuerer: Pierre Boulez (1925–2016).

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