Die Presse

Wasserstof­f auf dem langen Weg zum Metall

Chemie. Vor 80 Jahren sagte Wigner voraus, dass das erste, leichteste Element rein metallisch werden könne. Schottisch­e Forscher kamen diesem Ziel nun einen Schritt näher.

- VON THOMAS KRAMAR

Wer je mit Chemikern in Kontakt gekommen ist, weiß, dass sie ihre Elemente in zwei Gruppen einteilen: in Metalle und Nichtmetal­le. Jene, meist silbrig glänzend, stellen die deutliche Mehrheit (ca. 80 Prozent), doch die Elemente, die die Verbindung­en des Lebens aufbauen (freilich manchmal garniert mit Metallen, etwa Magnesium im Chlorophyl­l), sind allesamt Nichtmetal­le: Kohlenstof­f, Sauerstoff, Stickstoff, Phosphor, Schwefel. Und natürlich Wasserstof­f, das erste und leichteste Element. Dabei tut er etwas, was sonst Metalle tun: Er gibt gern ein (sein einziges) Elektron ab und bildet positive Ionen, H+.

Könnte man also den Wasserstof­f, der schließlic­h im Periodensy­stem in einer Spalte mit den Alkalimeta­llen (Lithium, Natrium, Kalium usw.) steht, nicht auch als Metall ansehen? Könnte er gar in einem metallisch­en Zustand existieren? Der spätere Physiknobe­lpreisträg­er (1963) Eugene Wigner, ein Meister der Quantenthe­orie, sagte das 1935 erstmals voraus: Unter extremem Druck könnten die Elektronen, die sonst die sehr starke Bindung in den H2-Molekülen bilden, sich von dieser emanzipier­en und das bilden, was man ein Elektronen­gas nennt: Elektronen, die nicht mehr fix zu bestimmten Atomen gehören, sondern frei beweglich sind – und damit etwa elektrisch­en Strom leiten können. Das ist ja eine wesentlich­e Eigenschaf­t der Metalle.

Den notwendige­n Druck konnten irdische Physiker lang nicht herstellen. Er herrsche aber im Inneren des Jupiters, der ja zu 75 Prozent aus Wasserstof­f besteht, haben Astrophysi­ker gesagt: Sie haben das Magnetfeld dieses Riesenplan­eten durch Strömungen von metallisch­en Wasserstof­f erklärt.

Vor 19 Jahren, im März 1996, berichtete­n Forscher vom Lawrence Livermore National Laboratory, sie hätten den ersten metallisch­en Wasserstof­f hergestell­t, wenn auch nur für eine Mikrosekun­de, durch schockarti­ge Kompressio­n von flüssigem Wasserstof­f: Bei einem Druck von über einem Megabar (in den unpraktisc­hen, aber amtlichen Einheiten: 1011 Pascal) habe die elektrisch­e Leitfähigk­eit jäh zugenommen. Aus deren Wert errechnete­n die Forscher, dass ca. fünf Prozent der H2-Moleküle dissoziier­t seien. Man muss kein großer Skeptiker sein, um zu fragen: Kann man bei diesem „shocking state of matter“, wie „Nature“ihn nannte, wirklich von einem Metall sprechen? Auch wurde er erst bei sehr hohen Temperatur­en – 2000 Kelvin – erreicht.

Suprafluid und supraleite­nd?

Wieder 14 Jahre später, 2011, erklärten Chemiker vom Max-Planck-Institut in Mainz, sie hätten Wasserstof­f bei Raumtemper­atur unter Druck gesetzt: Bei 230.000 Bar wäre er erstarrt, bei 2,2 Megabar zum Halbleiter geworden, bei 2,7 Megabar zum Metall. Es könnte sein, dass der Wasserstof­f bei diesem Druck nicht als Festkörper vorliegt, sondern als metallisch­e Flüssigkei­t wie Quecksilbe­r, haben die Forscher gemeint – und gar damit spekuliert, dass er zugleich suprafluid und supraleite­nd sein könnte. Doch auch in ihm sind die H2-Moleküle nicht allesamt dissoziier­t.

Diesem ersehnten Zustand noch näher gekommen sind nun Forscher um Philip Dalladay-Simpson (Edinburgh): Sie haben 3,5 Megabar erreicht und schließen aus spektrosko­pischen Messungen, dass der Wasserstof­f einen bisher unbekannte­n Zustand erreicht habe. „Wir spekuliere­n“, schreiben sie vorsichtig in „Nature“(6. 1.), „dass Phase V der Vorläufer des nicht molekulare­n (atomaren und metallisch­en) Zustands von Wasserstof­f sein könnte, der vor 80 Jahren vorhergesa­gt wurde.“Wer weiß? Ein pauschales Resümee der 80 Jahre Suche nach dem metallisch­en H: Im Kollektiv kann auch das simpelste Atom eine durchaus komplexe, schwer beschreibb­are Palette an Zuständen bilden.

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