Die Presse

Stadt am Rande des Kannibalis­mus

Syrien. Weil mindestens 40.000 Menschen in der belagerten Stadt Madaya seit Monaten hungern, droht Kannibalis­mus. Das Rote Kreuz kann frühestens am Sonntag erstmals Hilfsgüter schicken.

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Genf/Madaya. Nach der Zustimmung des syrischen Regimes zu Hilfsliefe­rungen in die seit Sommer 2015 von Regierungs­truppen und der libanesisc­hen Hisbollah-Miliz eingeschlo­ssene Stadt Madaya nahe Damaskus warten mindestens 40.000 hungernde Menschen dort auf Lebensmitt­el. Bis Freitag sei kein Hilfstrans­port eingetroff­en, berichtete­n Aktivisten der Rebellen in arabischen Medien.

Ein Sprecher des Internatio­nalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf indes sagte, man habe eine Erlaubnis für Lieferunge­n bekommen, könne diese wegen ihrer Menge aber erst ab Sonntag in die Stadt bringen. Zudem werde man Güter in die von Rebellen belagerten Orte Fua und Kefraya in Nordwestsy­rien liefern.

Hilfsorgan­isationen konnten angeblich zuletzt im Oktober Nahrung nach Madaya bringen. Laut Ärzte ohne Grenzen sind seit Dezember zwei Dutzend Menschen dort verhungert, darunter sechs Babys. Die Stadt sei „ein Gefängnis unter freiem Himmel“. Die Hälfte der rund 40.000 Menschen in der syrischen Stadt Madaya sind nach Unicef-Angaben Kinder. Es hätten freilich nicht nur die Armee, sondern auch Rebellengr­uppen Helfern den Zugang zur Stadt verwehrt, sagte der Sprecher des UNHochkomm­issariats für Menschenre­chte, Rupert Colville. Derzeit seien in 15 Orten Syriens fast 400.000 Menschen von Hilfe abgeschnit­ten.

Der Hungertod von Menschen, die seit Monaten eingeschlo­ssen sind, war indes schon vor längerer Zeit voraussehb­ar gewesen. Schon 2012 begannen in Syrien Kriegspart­eien aller Seiten mit der Belagerung von Städten und Dörfern sowie dem Aushungern und gezielten Beschuss der Bevölkerun­g. Aus Madaya hatte es zuletzt gar Gerüchte gegeben, es drohe Kannibalis­mus; möglicherw­eise habe es solche Akte sogar schon gegeben.

Die Hölle von Leningrad

In der Geschichte gab es oft Hungersnöt­e bis hin zum Kannibalis­mus infolge extrem langer Belagerung­en. Ein besonders extremes Beispiel war die 900-tägige Belagerung von Leningrad (Sankt Petersburg) durch deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg, wobei rund 1,2 Millionen Zivilisten starben – großteils an Hunger. „Vom schaurigst­en Stadtdrama, das sich hier entwickelt“, schrieb selbst Joseph Goebbels in seinem Tagebuch.

„Der Tod kam leise, mucksmäusc­henstill, tagein und tagaus, Monat um Monat alle 900 Tage lang. Wie wollte man dem Hunger entgehen? Unvorstell­bares diente als Nahrung. Man kratzte Leim von Tapeten und kochte Ledergürte­l. Man aß Katzen und Hunde. Und dann kam der Kannibalis­mus . . .“Das berichtete der 95-jährige Leningrad-Überlebend­e Daniil Granin vor zwei Jahren vor dem Deutschen Bundestag. Mindestens 1500 Fälle von Kannibalis­mus wurden seinerzeit in der belagerten Stadt an der Ostsee dokumentie­rt.

Die in der Haager Landkriegs­ordnung von 1899/1907 vereinbart­e und auch vom Deutschen Reich ratifizier­te völkerrech­tliche Pflicht, bei Belagerung­en die Bevölkerun­g nach Möglichkei­t zu schonen, hatte sich nicht nur in Leningrad als wirkungslo­s erwiesen. Auch die mit der 4. Genfer Konvention 1949 verschärft­en Normen zum Schutz von Zivilisten konnten in den Balkankrie­gen der 1990er-Jahre die diversen Kriegspart­eien nicht davon abhalten, mit der Belagerung Sarajewos und anderer Städte derartige Kriegsverb­rechen zu wiederhole­n.

Deals vor Friedensge­sprächen

In Syrien sind bisher fast alle Bemühungen des Roten Kreuzes und der UNO gescheiter­t, die Versorgung und das Überleben bedrohter Zivilisten zu sichern. Die Zusage der Regierung, Hilfskonvo­is nach Madaya zu lassen, war an die Bedingung einer entspreche­nden Versorgung der zwei von Rebellen belagerten Dörfer gebunden. Auch das Heraushole­n von Zivilisten aus umkämpften Ortschafte­n und das In-Sicherheit-Bringen opposition­eller und regierungs­treuer Truppen in die Türkei und den Libanon im Dezember waren Ergebnis politische­r Deals.

Offensicht­lich ging es den Akteuren vor allem darum, im Vorfeld der ab 25. Jänner geplanten Genfer Verhandlun­gen zwischen Regierung und Opposition die Fronten abzustecke­n und sich auf dem politische­n Schachbret­t besser aufzustell­en. (zum/ag.)

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[ APA ] Demonstran­ten im Libanon machen auf die Hungernden in Madaya aufmerksam.

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