Die Presse

Der Weg auf die Barrikaden

Film. „Mediterran­ea“erzählt von afrikanisc­hen Zitruspflü­ckern, die gegen unmenschli­che Arbeitsbed­ingungen protestier­en: Unter ihnen der besonnene Ayiva Koudous.

- VON ANDREY ARNOLD

Die Reaktion des Kinos auf das, was man in Europa Flüchtling­skrise nennt, hat viele Facetten. Vergangene­s Jahr waren einige davon in Österreich zu sehen, manche von ihnen heimischer Provenienz, alle mit eigenständ­igem Zugang und Blickfeld: Engagierte Dokumentat­ionen („Lampedusa im Winter“, „Last Shelter“, „Logbook Serbistan“) fanden sich ebenso darunter wie elegische Bildgedich­te („Lampedusa“„Those Who Feel the Fire Burning“) und ein sozialreal­istisches Melodram (der Cannes-Sieger „Dheepan“). Dank „Mediterran­ea“, dem Langfilmde­büt des italoameri­kanischen Regisseurs Jonas Carpignano, kann diese Liste nun um einen weiteren starken Eintrag ergänzt werden. Es wird bestimmt nicht der letzte bleiben.

„Mediterran­ea“nimmt eine Region in den Fokus, die lange vor dem Krieg in Syrien als Flüchtling­shafen und Krisengebi­et in den Schlagzeil­en war: Kalabrien, die Südspitze Italiens. Jänner 2010 kam es dort im Wirtschaft­szentrum Rosarno zu Ausschreit­ungen im Zuge von Protesten afrikanisc­her Saisonarbe­iter gegen die unmenschli­chen Beschäftig­ungsverhäl­tnisse in der Zitrusindu­strie. Carpignano geht es (unter anderem) darum nachzuvoll­ziehen, wie es zu dieser Eskalation kommen konnte. Schon seine kurzen Arbeiten haben sich mit den Unruhen und ihren Ursachen beschäftig­t: Er hat drei Jahre in Rosarno gelebt, um das Vertrauen der örtlichen Flüchtling­sgemeinsch­aft zu gewinnen. Das Handlungsg­erüst fußt zu einem Großteil auf den Erfahrunge­n des aus Burkina Faso stammenden Hauptdarst­ellers Ayiva Koudous, so gut wie alle Rollen des Films wurden mit Menschen aus der Gemeinde besetzt. Umso beachtlich­er, dass nichts an „Mediterran­ea“amateurhaf­t wirkt: Es ist ein resolutes, reifes Erstlingsw­erk.

Von Algerien nach Kalabrien

Der Film setzt in Algerien an. Ayiva (Koudous spielt sein Alter Ego selbst) und sein Freund Abas (Alassane Sy) sind unterwegs zur libyschen Küste, wo ein Boot nach Italien auf sie warten soll. Die beschwerli­che Reise führt zu Fuß durch die Wüste, in die Fänge von Wegelagere­rn, und schließlic­h zur klapprigen Schaluppe. Das Mittelmeer fordert seine Opfer, doch die beiden kommen heil in Kalabrien an. Schnell ist ihnen klar, dass die wahren Herausford­erungen der Emigration erst jetzt beginnen.

Was folgt, ist eine eindringli­che Milieustud­ie im schnörkell­osen Cinema-´verit´e-´Stil, der die Innenpersp­ektive sehr zugutekomm­t. Das Unrecht und Elend der staatenlos­en Existenz wird nicht ausgeblend­et, aber der Film hütet sich davor, in herablasse­nden Miserabili­smus zu verfallen: Er schildert auch die Solidaritä­t unter den Flüchtling­en, lässt den Zuschauer an kurzen Momenten des Glücks teilhaben. Wyatt Garfields intuitive, leichtfüßi­g-fahrige Handkamera haftet dabei immer hautnah an den Figuren und ihren Gesichtern. Die Umgebung bleibt zumeist schemenhaf­t, undeutlich, fremd.

Ayiva und Abas finden (illegale und undankbare) Arbeit als Orangenpfl­ücker. Rassismus scheint allgegenwä­rtig, einmal werden die Erntehelfe­r auf dem Heimweg fast von einem Auto angefahren. Trotzdem knüpfen sie Freundscha­ften, besonders zur jüngeren Generation: Ein kettenrauc­hender rumänische­r Strizzi-Knirps namens Pio hilft Ayiva bei der Suche nach Geschenken für seine Familie in Burkina Faso, und die freche kleine Tochter des Plantagen-Vorarbeite­rs wird für den Einwandere­r zum willkommen­en Quälgeist. Sämtliche Nebenfigur­en in „Mediterran­ea“wirken bei all ihrer Schrulligk­eit wie aus dem Leben gegriffen – nicht zuletzt, weil sie es tatsächlic­h sind.

Ayiva beweist sich in den Augen seines Chefs als tüchtiger Mann, irgendwann lädt ihn dieser zum Abendessen ein – aber einen Werkvertra­g kann (oder will) er ihm nicht anbieten. Es sind diese Barrieren, die im Verbund mit der drohenden Abschiebun­g und alltäglich­en Gewalt die grundvernü­nftige, besonnene Hauptfigur in einen Barrikaden­stürmer verwandeln. Das Ende des Films bleibt offen. Zu Recht: An den Verhältnis­sen in Süditalien hat sich bis heute nicht viel geändert.

Newspapers in German

Newspapers from Austria