Was auf dem Spiel steht
Ich habe mir vorgenommen, im Folgenden die Formulierung „Krise der Kritik“auf jeden Fall zu vermeiden. Man darf nämlich voraussetzen, dass die literaturkritische Zunft inzwischen darüber Bescheid weiß, wie es um sie steht. Wir wissen, dass die Marktnischen für klassische Disziplinen unabhängiger Kulturkritik wie Filmkritik, Theaterkritik, Musikkritik, Kunstkritik und eben auch Literaturkritik verschwinden. Wir sind uns im Klaren über den Statusverfall der Kritik und über die Marginalisierung und zunehmende Wirkungslosigkeit des klassischen Rezensionsjournalismus. Dessen Definitionsmacht schwindet.
Wir wissen, dass die Dignitätsrolle der Kritik weitgehend ausgespielt ist und kaum mehr mit der knappen Ressource Aufmerksamkeit belohnt wird. Wir sehen, dass in den schrumpfenden Feuilletons immer weniger Kritiker, immer weniger Entscheider über die Sortierung und Bewertung der Neuerscheinungen befinden, was aber kaum auffällt und kaum jemanden stört. Denn: Wenn, wie Thomas Steinfeld meint, die Literaturkritik Bücher rezensiert, die die Leute nicht lesen, warum sollten die Leute dann noch die Rezensionen lesen?
Wir sehen, wie parallel zum Abbau der klassischen Feuilletonkritik die Werbe- und Marketingabteilungen und die Pressestellen aufgerüstet werden und das Terrain der unabhängigen Kritik unterwandern, ganz im Vollgefühl, historisch das Rennen gemacht zu haben. Wir sind uns bewusst, dass, wie Thomas Edlinger feststellt, eine unabhängige, diskursive Literaturkritik immer mehr durch offene oder versteckte Medienpartnerschaften ersetzt wird. Wir beobachten den Siegeszug des Servicejournalismus, der von einem erkennbaren Paradigmenwechsel bei den Autoritäten profitiert: Nicht mehr der unabhängige, souveräne Kritiker ist die Instanz, nach der sich die Buchwelt richtet, sondern der Konsument. Dessen einziges Kriterium ist der nach Verbraucherindizes bemessene Markterfolg, und dieses Erfolgskriterium setzt alle Qualitätskriterien außer Kraft. Wir sehen, wie die Urteilsrede des Kritikers immer öfter ersetzt wird durch eine Schwundform der Kritik: durch willkürliche Rating-Systeme.
Das alles bleibt naturgemäß nicht ohne Wirkung auf das Selbstverständnis der Literaturkritiker. Sie kämpfen mit einer Vielzahl von Verlustängsten, gegen die auch eine Panzerung mit Dauerironie und Zynismus nicht wirklich hilft: Angst vor dem Verlust von Einfluss, Deutungshoheit und Sozialprestige, aber auch schlicht Angst vor Stellenabbau und dem Verlust des Arbeitsplatzes. Ihre Überlebensstrategien sind gekennzeichnet von Selbstzweifeln und Verunsicherung. In heimlicher Panik sinnen sie auf die desparatesten Fluchtwege. nicht lieber umschwenken auf eine Simulation von Kritik, auf eine äußerlich kritikförmige, innerlich aber zunehmend ausgehöhlte Pseudokritik, bei der ein augenzwinkernder Unernst immer angenehm mitschwingt? Warum überhaupt im Kontinuum des Stroms der Neuerscheinungen mühsam nach Relevanz fahnden und nicht lieber gleich gut gelaunte Konsumempfehlungen über sozusagen börsennotierte Toptitel schreiben? Und wenn man etwas raffinierter vorgehen will, dann kann man sich dabei einen scheinkritischen Gestus zulegen, der die Affirmation nur umso reizvoller und pikanter zur Geltung bringt.
Warum statt Meinungsbildungs- nicht lieber Peergroup-Journalismus betreiben im Unisono des Hochlobens und Heruntermachens, indem man sich über die Köpfe des Publikums hinweg im ironischen Einverständnis mit den Kollegen Warenausrufern in den anderen Feuilletons über jeden gerade angesagten Quatsch verständigt? Warum nicht gleich sein Fähnchen in den Wind hängen und sein literarisches Urteil der Konjunktur anpassen?
Etwa wenn ein und derselbe Kritiker an Rainald Goetz vor dem Büchner-Preis herumnörgelt, wie ermüdend, ichverkrampft, kleingeistig und erbsenhaft dessen Weltabschreibereien doch seien, aber nach dem Büchner-Preis den Autor Goetz plötzlich gar nicht genug bejubeln kann: „Jedes seiner Bücher, selbst die schwächsten, sind von einer so gigantischen Intensität und Sprachkraft und einem Sinn für Sound und Gegenwart und Poesie und Schönheit. Nichts wirkt je ausgedacht, abgelesen, hinterhergeschrieben.“(Wenn man sich schon einem haltlosen und heillosen Meinungsopportunismus ergibt, dann sollte man sich wenigstens nicht dabei erwischen lassen.)
Wenn also Literaturkritik im Grunde eine Form der Verkaufsförderung ist, warum sie dann verschämt betreiben? Warum sie nicht offensiv betreiben, mit Verve und Pfiff, als pointiertes Briefing für den Party-Smalltalk eines denk- und lesefaulen Publikums? Mindestens eine professionelle Gewandtheit im Schreibstil sollte man der Schmutzkonkurrenz durch die endemisch zunehmende Laienkritik im Internet noch voraushaben.