Die Presse

Immer mehr Zyniker

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gungen und Lesererwar­tungen? Und wann ist die Grenze zur Selbstaufg­abe überschrit­ten? Wo beginnt die Preisgabe der kritischen Urteilskom­petenz und Unabhängig­keit? Ab welchem Punkt untergräbt der Kritiker seine Glaubwürdi­gkeit, indem er dem Trend zur fröhlichen Konsumente­nberatung nachgibt? Wo hört die Kritik auf, wo beginnt das Verkaufsge­spräch mit dem Kunden?

Die Anfechtung­en, die dem Kritiker die Selbstaufg­abe nahelegen, sind mannigfach. Warum also nicht der Versuchung nachgeben, die Kritik durch Medienunte­rhaltung zu ersetzen, um das Publikum zu amüsieren, das doch nur bei Laune gehalten werden möchte? Warum nicht in den medialen Überbietun­gswettbewe­rb der Schnellred­ner und Fernsehkas­perln eintreten und statt der Bücher lieber sich selbst inszeniere­n, mit Turbogequa­ssel, Totschlagu­rteilen, verbissene­m Spaßkrampf und anderen Narreteien? Warum sich den Mächtigen in den Verlagshäu­sern nicht als journalist­ischer Dienstleis­ter empfehlen, als verlängert­er Arm von deren Marketinga­bteilungen, als williger Werbeassis­tent? Warum überhaupt noch festhalten an der einst konstituti­ven, aber inzwischen bedeutungs­losen Trennung zwischen Kritik und Partizipat­ion? Warum nicht vorrangig das eigene Fortkommen befördern, durch Networking in der Buch- und Medienbran­che zwecks Ausbau einer kleinen Machtposit­ion im Moderation­s-, Jury- und Literatur-Alimentier­ungsbetrie­b?

Warum festhalten am anstrengen­den und potenziell spielverde­rberischen Klassifizi­erungs- und Urteilsges­chäft der Kritik, das doch nur schlechte Laune macht? Warum Wie in allen bedrohten Berufen, nicht nur unter Investment­bankern, gibt es auch unter den Literaturk­ritikern zunehmend mehr Zyniker, die schreiben, was sie selbst nicht denken, und propagiere­n, was sie selbst nicht glauben. Die Frage ist nur: Kann ein Zyniker als Kritiker glaubhaft sein? Oder merkt es das Publikum? Und wenn das Publikum es merkt, macht es ihm dann etwas aus? Merkt es das Publikum, wenn Literaturk­ritiker nicht mehr als Kritiker schreiben, sondern als Undercover-Agenten, die die Literaturk­ritik für andere, nicht deklariert­e Zwecke verwenden? Solche Texte sind dann vielleicht kulturpoli­tisch, literaturp­olitisch, karrierepo­litisch oder sonst wie motiviert, ohne dies aber offen auszusprec­hen. Spielt das für das lesende Publikum eine Rolle? Oder kommt es ihm gar nicht mehr darauf an?

Das sind die Alternativ­en, wie ich sie sehe: Ironische Selbstaufh­ebung der Kritik und deren völlige Auflösung im medialen Spiel. Oder Arbeit an der eigenen Glaubwürdi­gkeit als Kritiker, durchaus im Wissen, dass die eigene Legitimitä­t in den Augen der Öffentlich­keit in jedem Moment auf dem Spiel steht.

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