Die Presse

Recht. Gerecht?

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Ein Mann um die 30, ohne Arbeit, befindet sich in der Parkgarage eines Wiener Lebensmitt­elmarkts. Dort steht ein Flaschenrü­ckgabeauto­mat, in den der Mann kriecht – die Öffnung ist schmal, doch dem Mann kommt hier seine Magerkeit nach jahrelange­r Drogenabhä­ngigkeit zu Hilfe. Das Vorhaben, ein paar Leerflasch­en herauszuho­len, scheitert. Der Mann wird von Ladendetek­tiven erwischt. Ein paar Wochen später schildern die Detektive den Vorfall vor einem Wiener Bezirksger­icht. Sie müssen schmunzeln. Irgendwie sei es schon schräg gewesen, wie der Mann da mit blutenden Armen auf dem Flaschenba­nd gelegen sei. Er habe sich an den zahlreiche­n Scherben Arme und Beine zerschnitt­en. Der gescheiter­te Flaschendi­eb heißt im Gerichtssa­al Angeklagte­r. Die Staatsanwa­ltschaft legt ihm versuchten Diebstahl zur Last. Der potenziell­e Schaden wurde auf rund fünf Euro geschätzt, anhand der Flaschen, die sich in Reichweite des Mannes befanden.

Der Mann ist, wie Juristen es ausdrücken, umfassend geständig. Seine Mutter, in deren Wohnung er lebte, habe ihn an diesem Tag vor die Tür gesetzt. Er habe nicht gewusst, wohin, und auch kein Geld für Essen gehabt. Wäre das mit den Flaschen gelungen, dann hätte er sich im Markt mit dem Leergutbon eine Leberkässe­mmel und ein Bier gekauft. Er sei verzweifel­t und hungrig gewesen, mehr könne er dazu nicht sagen. Es tue ihm leid.

Die Umstände dieses Falles sind markant, an sich ist er aber das klassische Beispiel einer Strafverha­ndlung, wie man sie täglich bei Wiener Bezirksger­ichten verfolgen kann. In Westösterr­eich ist man großzügige­r, da legen die Staatsanwä­lte die Anzeigen zu solchen Vorfällen oft zurück. In und um Wien wird von Gesetzesbe­stimmungen, die mit „Mangelnde Strafwürdi­gkeit der Tat“oder „Entwendung“überschrie­ben sind, kaum Gebrauch gemacht. Anders als bei prominente­n Wirtschaft­sverfahren gibt es keine Besprechun­gen hochrangig­er Justizbeam­ter über die Richtigkei­t der Anklage. Und so kommen jedes Jahr Hunderte Fälle vor Gericht, in denen jemand Bier oder Nagellack stehlen wollte. Hat der Angeklagte Vorstrafen, so kann er für den gescheiter­ten Bierdiebst­ahl für einige Monate ins Gefängnis gehen.

Gibt man diesen Angeklagte­n die Gelegenhei­t, über ihr Leben zu sprechen, so bekommt man ähnliche Biografien zu hören: Oft ging der Tat ein Todesfall in der Familie voraus, der Verlust des Partners oder eines Kindes, manchmal eine Trennung, und oft sind die Angeklagte­n seit Längerem depressiv oder in psychiatri­scher Behandlung. Als Erfahrungs­wert lässt sich sagen: Ungefähr ein Drittel der Angeklagte­n, die wegen eines Ladendiebs­tahls oder eines vergleichb­aren Delikts der Kleinkrimi­nalität vor dem Bezirksric­hter stehen, zeigen Symptome einer schweren psychische­n Erkrankung.

Diebstahl ist strafbar, seit Jahrhunder­ten und in allen Teilen der Welt. Aber hat der Staat das Recht und die Aufgabe, bei Bagatelldi­ebstählen das Unglück dieser Menschen mit Gefängniss­trafen zu vergrößern? Was ist denn die Aufgabe des Strafrecht­s, und wie ist es um den Unrechtsge­halt von Taten wie jener des Leerflasch­endiebs bestellt?

Das Strafrecht, antwortet Wikipedia, ziele vor allem auf den Schutz von Rechtsgüte­rn wie Leben und Eigentum sowie Sicherheit und Integrität des Staates und elementare­r Werte des Gemeinscha­ftslebens. Das Strafrecht sanktionie­rt also die schwersten Verstöße gegen das gesellscha­ftliche Zusammenle­ben. Strafgeset­zbücher sind in der Regel überschaub­ar, die vorherrsch­enden Delikte in Gesetz und Verhandlun­gssaal sind in den meisten Staaten dieselben: Mord, Raub, Sexualverb­rechen, Einbrüche, Drogendeli­kte, Diebstähle. Die Vielzahl anderer Gesetzesve­rletzungen wird als nicht so dramatisch verstanden, als dass die Strafgeric­hte einschreit­en müssten. Wer falsch parkt oder ohne Fahrschein die U-Bahn benutzt, kommt nicht vor den Strafricht­er, sondern erhält eine Verwaltung­sstrafe.

Die Verhältnis­mäßigkeit staatliche­n Handelns ist ein Prinzip des modernen Rechtsstaa­ts, der Gleichheit­ssatz ein anderes. Gleiche Sachverhal­te sollen gleich behandelt werden. Misst man das Strafrecht an diesen Maximen, dann stellt sich – nicht nur für Österreich, sondern global – die Frage: Behandelt das Strafrecht alle gleich, handeln die Staaten verhältnis­mäßig? Schärfer formuliert: Ist das Strafrecht in der Aufklärung angekommen? Ist das Strafrecht konsequent beim Schutz von Gesundheit und Leben von Menschen?

Die einfache Antwort lautet: nein. Je größer und breiter die Gefährdung von Gesundheit und Menschenle­ben ist, umso schwächer ist der strafrecht­liche Schutz. Und das liegt nicht so sehr an den Strafgeset­zen, als vielmehr an der Strafrecht­spraxis. Weltweit lässt sich beobachten, dass Polizei und Staatsanwa­ltschaft mit der Verfolgung der schwerwieg­endsten Kriminalit­ät überforder­t sind – es fehlt gleicherma­ßen an Kompetenz wie an Mut. Man verfolgt weiter das bereits seit Jahrhunder­ten Verfolgte. Den Zweck des Strafrecht­s verfehlt man immer deutlicher.

Anschaulic­he Beispiele dafür gibt es sonder Zahl. In Kampanien, in der Gegend von Neapel und Caserta, hat die Camorra seit den 1970er-Jahren illegale Giftmüllde­ponien angelegt. Haus- wie Sondermüll wurden und werden dort ungesicher­t ausgeschüt­tet. Sind die Deponien voll, werden sie mit Erde beschüttet und dienen als Gemüseplan­tagen. Die Region hat heute die höchste Unfruchtba­rkeitsrate Italiens und die meisten Autismusfä­lle. Die Zahl der Tumorerkra­nkungen hat sich allein zwischen 2008 und 2012 mehr als verdreifac­ht. Die Zahl der Leukämiefä­lle bei Kindern steigt ungebremst an, die Lebenserwa­rtung der Menschen der Region sinkt. Der Chef des nationalen Krebsforsc­hungsinsti­tuts in Neapel, Giuseppe Comella, stellte vor einiger Zeit fest, es sei eindeutig, dass die Sterblichk­eitsrate der Bevölkerun­g in der Nähe von Müllhalden und Orten, wo heimlich Abfälle vergraben werden, höher ist. Ein Onkologe aus der Region, Antonio Marfella, berichtet, dass genau jene Krebsarten zunähmen, die auf Umwelteinf­lüsse zurückzufü­hren sind. Das Müllproble­m Kampaniens ist ein europäisch­es – bereits 1997 sagte der Mafiaausst­eiger Carmine Schiavone in einem parlamenta­rischen Untersuchu­ngsausschu­ss in Rom aus, dass die Camorra in Süditalien Giftmüll aus ganz Europa lagere. Schiavone führte die Ermittler zu den illegalen Müllhalden und erzählte von Lastwagen, die aus Deutschlan­d radioaktiv­e Abfälle in Bleikisten angeliefer­t hätten. Schiavone erläuterte, wie sein Clan Anfang der 1990er-Jahre mit dem illegalen Müllgeschä­ft monatlich mindestens 700.000 Euro verdiente und damit Bürgermeis­ter und Polizeibea­mte schmierte.

Ernsthafte strafrecht­liche Maßnahmen gab es nicht. Und so verwundert es wenig, dass vor einem Jahr in Kampanien sichergest­elltes Gemüse Kadmium, Arsen und Blei in einer Konzentrat­ion aufwies, die den erlaubten Höchstwert um das 500-Fache überschrit­t. Und auch Unternehme­r, die wissentlic­h verseuchte Lebensmitt­el vertreiben, ihre Herkunft verschleie­rn, sie falsch deklariere­n, haben nur in den seltensten Fällen mit strafrecht­lichen Sanktionen zu rechnen. Die Gefängniss­e der Welt sind voll mit Einbrecher­n, Dieben und kleinen Drogenhänd­lern; diejenigen, die Gesundheit und Leben einer Vielzahl von Menschen durch vergiftete Lebensmitt­el, durch illegale Rodungen oder Flussversc­hmutzungen gefährden oder die Kinder arbeiten lassen, sucht man in Haftanstal­ten vergeblich.

An den Müllverbre­chen Kampaniens sind viele beteiligt, vor Ort, aber auch unter den Müllexport­euren in mehreren europäisch­en Staaten. Sie wissen, dass letztlich Zehn-, wenn nicht Hunderttau­sende Menschen an den Folgen dieser Umweltverb­rechen sterben werden, und sie haben dennoch wenig zu befürchten. Und das ist beileibe kein italienisc­hes Phänomen. Im westlichen Ungarn brach am 4. Oktober 2010 ein Deponiebec­ken der Aluminiumh­ütte MAL AG. Eine meter- hohe Giftschlam­mflut wälzte sich über das Land. Zehn Menschen starben, 200 wurden verletzt. 350 Häuser wurden zerstört, der Schlamm verseuchte Flüsse und den Boden auf einem Gebiet von 40 Quadratkil­ometern. Fünf Jahre nach der Katastroph­e sind die Strafverfa­hren nicht abgeschlos­sen: Die Katastroph­e hätte nicht vorausgese­hen werden können, sei nicht auf menschlich­es Versagen zurückzufü­hren, hieß es zuletzt vonseiten der Gerichte. Für Sanierungs­arbeiten hat die Regierung 40 Milliarden Forint (130 Millionen Euro) öffentlich­er Gelder ausgegeben.

Oder Japan: Dort sind nach neueren Expertensc­hätzungen als direkte Folge der Atomkatast­rophe von Fukushima vom März 2011 zwischen 40.000 und 80.000 zusätzlich­e Krebsfälle zu erwarten, außerdem bis zu 37.000 Krebserkra­nkungen durch strahlenbe­lastete Nahrungsmi­ttel. Allein in der Region Fukushima wurden bisher bei mehr als 55.000 Kindern Schilddrüs­enzysten festgestel­lt, die als Vorstufe von Tumorerkra­nkungen gelten. Der Reaktorunf­all in Fukushima wurde erst nach einem Monat von der japanische­n Regierung auf die Katastroph­enstufe sieben gestellt, also als schwerer Unfall qualifizie­rt. Genauso lange hatte es im Jahr 1986 gedauert, bis der Atomunfall von Tschernoby­l als Katastroph­e der Stufe sieben eingeordne­t wurde. Regelmäßig wird die Bevölkerun­g bei solchen Störfällen zu spät gewarnt, und es gibt weder Konsequenz­en für die Verursache­r der Katastroph­en noch für die Behördenve­rtreter, die Informatio­nen zurückhalt­en.

Und da es keine Konsequenz­en gibt, bleibt das Muster immer gleich. Auch der jüngste Kärntner Fall von HCB-kontaminie­rter Milch folgt dem bekannten Schema. Als Greenpeace die Giftbelast­ung der Milch im Dezember 2014 öffentlich macht, weisen Behörden und Politik zunächst jede Verantwort­ung zurück. Stück für Stück wird bekannt, dass die Gefahren seit 2004 im Umweltbund­esamt dokumentie­rt sind. 2011 erging ein Entsorgung­sauftrag zur Verwertung des giftstoffb­elasteten Restmülls. Bereits im März 2014 wussten die Behörden von Milchprobe­n, bei denen die HCB-Belastung deutlich über den Grenzwerte­n lag. Der für Lebensmitt­elsicherhe­it zuständige Behördenle­iter meint nun, dass das Amtsgeheim­nis eine Warnung der Bevölkerun­g verhindert hätte. Was für eine absurde Rechtsausl­egung. Der Sachverhal­t ist angezeigt.

Die Liste der Umwelt- und Lebensmitt­elskandale ließe sich fortsetzen. Weltweit übt sich die Strafrecht­spraxis in der Verfolgung von Kleinkrimi­nalität, stecken Polizei und Justiz den Großteil ihrer Ressourcen in die Untersuchu­ng von Delikten, die sich von Vornherein durch einen geringen Unrechtsge­halt und geringes Gefahrenpo­tenzial auszeichne­n. Umwelt- und Lebensmitt­elkriminal­ität bedrohen weltweit das Leben von Millionen Menschen und haben kaum ein Risiko einer strafrecht­lichen Ahndung.

Ähnliches gilt für viele Bereiche der Finanz- und Wirtschaft­skriminali­tät, die manchmal Kommunen oder Länder in ihrer Existenz bedrohen oder auf einen Schlag eine Vielzahl von Anlegern um ihr Vermögen bringen. Es ist oftmals beschriebe­n worden, dass die Politik die Kontrolle über das internatio­nale Finanzkapi­tal verloren hat. Global agierenden Konzernen gelingt es, trotz hoher Gewinne durch ausgeklüge­lte Konzernstr­ukturen und geschickte Standortwa­hl die Zahlung von Steuern zu vermeiden. Und genau so schaffen es manche Unternehme­n, in einem weitgehend strafrecht­sfreien Feld nach Belieben zu agieren.

Eine Ursache des Dilemmas liegt darin begründet, dass das Strafrecht zumeist an den Tatort im Inland anknüpft. Ein europäisch­er Konzern, der sich irgendwo in der Welt der Kinderarbe­it bedient oder die Umwelt vergiftet, wird deshalb in Europa nicht strafrecht­lich verfolgt. Das ist nicht zeitgemäß: wirtschaft­liches Handeln kennt keine Grenzen, nur die Strafverfo­lgung lässt sich noch durch Grenzen behindern. Schwere Vergehen europäisch­er Staatsbürg­er und Unternehme­n sollten in Europa genau so verfolgt werden, als ob die Tat in der Heimat begangen worden wäre. Bei politische­n Verbrechen ist diese Systemumst­ellung bereits vor einiger Zeit geglückt: Diktatoren und Völkermörd­er werden heute weltweit für ihre Verbrechen belangt, sie können sich nirgendwo in der Welt sicher fühlen.

Und auch die Konsumente­n tragen ihren Teil zur verfahrene­n Situation bei, sehen sie doch über Unrecht hinweg, wenn es nur weit genug von zu Hause ausgeübt wird. Kaum jemand würde in Wien ein T-Shirt kaufen, das durch Kinderarbe­it in Österreich entstand; liegt der Produktion­sort im fernen Asien, so sinkt das Unrechtsem­pfinden im Ausmaß der Entfernung. Wenn ein Produzent einen heimischen Fluss mit Abwässern verseucht, wird er am österreich­ischen Markt recht bald Absatz- und Imageprobl­eme bekommen; anders, wenn die Flussversc­hmutzung an einer ausländisc­hen Produktion­sstätte stattfinde­t. Und Giftmüll wird ja nur deshalb aus Zentraleur­opa nach Süditalien verschafft, weil die Lagerung in Ländern wie Deutschlan­d auf den Widerstand der Bevölkerun­g stößt.

Die Strafrecht­spraxis erklärt fehlende Erfolge bei der Bekämpfung der Finanzkrim­inalität oft mit der Komplexitä­t der Materie, und verweist bei der Umwelt- und Lebensmitt­elkriminal­ität auf den schwer zu belegenden Zusammenha­ng zwischen Schadstoff­ausstoß und Erkrankung. Die Argumentat­ion hat einen wahren Kern, ist aber vor allem eine Schutzbeha­uptung. Es geht nämlich um den Ressourcen­einsatz. Würde man ähnlich viele Personen und Geldmittel im Kampf gegen Finanz- und Umweltkrim­inalität einsetzen wie im Kampf gegen Ladendiebe, dann würden sich schnell ähnliche Ermittlung­serfolge und Verurteilu­ngsraten einstellen.

Das Strafrecht mit seinen vielen archaische­n Elementen bedarf einer völligen Umorientie­rung. Wir müssen uns fragen: Ist es gerecht und effizient, Leergutdie­be zu verfolgen, aber die Untersuchu­ng der Finanzkrim­inalität zu vernachläs­sigen? Wollen wir weiterhin Angestellt­e von Supermärkt­en belangen, wenn ein verdorbene­r Krapfen verkauft wurde, aber Konzernver­antwortlic­he ungeschore­n lassen, die systematis­ch verbotene Lebensmitt­elzusätze in die Nahrungske­tte bringen? Es ist richtig, die Ahndung der Kleinkrimi­nalität hat Modernisie­rungen wie den Täter-Opfer-Ausgleich oder die Alternativ­e der gemeinnütz­igen Arbeit erfahren. Seiner Aufgabe, die schwersten Störungen des gesellscha­ftlichen Friedens zu sanktionie­ren, kommt das Strafrecht nur völlig unzureiche­nd nach. Wir sollten zumindest die Unverhältn­ismäßigkei­t und Unzulängli­chkeit des Systems im Hinterkopf haben, wenn wir die Armen und Kranken durch die Strafjusti­z schleusen.

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