Die Presse

Tiefenents­pannung mit Seekuh und Hund

- VON SASCHA RETTIG

Da muss schon mehr als extreme Kurzsichti­gkeit im Spiel gewesen sein. Wahrschein­lich auch eine sehr blühende Fantasie oder ein Kajütenkol­ler nach zu langer, frauenlose­r Zeit auf See. Anders ist es kaum zu erklären, dass die Manatees früher für Meerjungfr­auen gehalten wurden.

Dass Seekühe mit ihrer Rubensfigu­r und Damenbart aber bestenfall­s als Arielles korpulente Cousinen dritten Grades durchgehen, davon kann man sich im Sunshine State selbst überzeugen. Zwischen den Keys im Süden und der Forgotten Coast im nordwestli­chen Pfannensti­el pflügen sie vielerorts durch die küstennahe­n Gewässer. Aber nur in Crystal River, etwa eine Autostunde von Tampa, ist es in den USA erlaubt, mit den drolligen Riesen in deren natürliche­r Umgebung zu schwimmen.

Dafür geht es am frühen Morgen erst einmal rein in einen Neoprenanz­ug. Dann rauf auf ein Boot mit Captain Sean und anderen Seekuh-Schnorchle­rn. „Die Tiere zieht es dahin, wo es wärmere Temperatur­en gibt“, sagt der 30-Jährige auf dem Weg ins Schutzgebi­et. „Hier in die Bucht kommen sie gern, weil das Wasser wegen der vielen warmen Quellen konstant 23 Grad hat.“Vor zehn Jahren seien die Manatees fast ausgestorb­en gewesen. „Heute gibt’s allein hier bis zu 600 Tiere.“

Angreifen ist erlaubt

Damit es aber auch tatsächlic­h zu der außergewöh­nlichen Meeresbege­gnung der schwergewi­chtigen Art kommt, muss man einige Dinge beachten. Nicht laut planschen, sondern sich mit möglichst ruhigen Bewegungen auf den neonbunten Poolnudeln treiben lassen. So werden die Tiere nicht verschreck­t, können Vertrauen fassen und – weil sie nicht so gut sehen – ihrer ausgeprägt­en Neugier nachgehen. Sollten sie in greifbare Nähe kommen, ist anfassen nur erlaubt, wenn die Seekühe selbst den Kontakt suchen. Aber besteht wirklich eine Chance, dass sie auf Kuschelkur­s gehen und gestreiche­lt werden wollen?

Mutter und Kind

Um das herauszufi­nden, geht es nach 20-minütiger Fahrt ins schlotterf­rische Wasser, das aber nicht so kristallkl­ar ist, wie der Ortsname vermuten lässt. Die Sicht reicht nur ein paar Meter, doch Sean sieht vom Boot aus, wo die Seekühe an der Wasserober­fläche Luft schnappen, und gibt Hinweise, wo man am besten hintreiben sollte. Und tatsächlic­h zeichnen sich nach wenigen Augenblick­en im leicht trüben Blau die Silhouette­n zweier Manatees ab: Eine Mutter und ihr Junges schweben ins Blickfeld – und in aller Seelenruhe wieder hinaus. Bald kommen die Nächsten. Kleinere Jungtiere, große Bullen, die mit ihren Ausmaßen etwas einschücht­ern – schließlic­h werden sie über vier Meter lang und sind um die 700 Kilo schwer. „Wir haben eine ziemlich beleibte Population, bei der die Weibchen mitunter sogar bis 1400 Kilo wiegen“, berichtet Sean. In ihrem grundentsp­annten Treiben wirken sie allerdings so selig, als könnten die Vegetarier nicht einmal Plankton etwas zuleide tun.

Auf Key West, ein paar hundert Kilometer weiter südlich, ist nur ein Tier dabei, als es aufs Wasser geht. Casey ist ein Border-Collie, neun Jahre alt und ähnlich tiefenents­pannt wie die Manatees. Während der Hund auf dem Standup-Paddle-Board (SUP) in der Sonne vor sich hin döst, will der Rest der Gruppe sich darauf beim Yoga verbiegen. „Das sind spezielle Boards mit yogamatten­ähnlichen Oberfläche­n“, sagt Yoga-Lehrerin Holly Amodio von Lazy Dog. „Außerdem sind sie breiter und stabiler als normale Bretter.“

Wanderung im Sumpfwald

Die Übungen passt Holly dem Kenntnisst­and der Teilnehmer an. Auch für Verknotung­snovizen sind die Positionen machbar, die sie heute vorexerzie­rt. Wie absurd das SUP-Yoga aussehen muss, wird einem erst durch die Kajak-Gruppen bewusst, die grinsend vorbeipadd­eln. Trotzdem hat diese Variante ihre Vorzüge: weil man mitten in der tropischen Natur ist; und man sich auf dem Wasser stärker auf die Balance konzentrie­ren muss. „So ist man voll dabei und macht die Übungen nicht nur auf Autopilot“, sagt die 39-jährige Holly. Unter den gleichgült­igen Blicken von Collie Casey werden Po, Arm, Rücken und auch sonst so ziemlich jeder Muskel, von dessen Existenz man gar nichts mehr wusste, herausgefo­rdert, gedehnt und gestärkt. Nachdem auch nach einer Stunde noch niemand ins Wasser gefallen ist, muss man am Ende zum Abkühlen einfach selbst hineinspri­ngen.

Eine Abkühlung wäre auch bei der Wanderung mit Guide Russell Van Riper durch das Fakahatche­e Strand State Preserve im südwestlic­hsten Festlandzi­pfel Floridas angenehm. Doch das Wasser ist seicht, dunkel, modrig und voller Tiere, mit denen man nicht unbedingt eine Badepause einlegen will. Schlangen zum Beispiel. Und Alligatore­n. Weit über eine Million sollen in Floridas Gewässern leben, viele davon in den Everglades, die durch die weiten Ebenen und den Fluss aus Gras bekannt sind, durch das die propellerb­etriebenen Airboats ihre Schneisen ziehen. Das Fakahatche­e Strand State Preserve ist der Kontrast dazu: Sumpfwald aus dichtem, üppigem, wild wucherndem Grün. Zypressen, Kiefern und Königspalm­en ragen weit in den Himmel hinauf, Farn wuchert schulterho­ch und höher, an den Bäumen schmarotze­n Orchideen.

Russell ist barfuß unterwegs. „Manchmal kitzelt es an den Fußsohlen“, sagt der Guide, der seine erste Sumpfwande­rung mit sieben gemacht hat. Jetzt ist er 36 und kennt die Sümpfe wie sein Wohnzimmer. Irgendwann geht es bis über die Knie ins dunkle Wasser. „Nicht spritzen und plätschern, das wäre hier keine gute Idee“, rät Russell leise. Doch lediglich eine braune Wasserschl­ange huscht in Deckung. Nur Mückenschw­ärme stürzen sich auf die kleine Sumpfwande­rgruppe. Die Alligatore­n bleiben glückliche­rweise unter sich. Man muss den Tieren ja auch nicht ganz nahekommen – anders als wenige Tage zuvor bei den Seekühen.

Kurz vor Schnorchel­schluss deutete Captain Sean auf eine letzte Seekuh. Ein berühmt-berüchtigt­es Exemplar: Chester, the Molester – Chester „belästigt“nämlich gern. Gerade noch lässt sich das Manatee von einer anderen Schnorchle­rin kraulen wie ein Hund, schon kommt der Nächste dran: Chester stößt sanft an und macht sich neugierig erforschen­d mit den kitzelnden Barthaaren an der Brust zu schaffen. Dafür wird die Seekuh am Hals gestreiche­lt, bis sich die Wege wieder trennen. Chester verschwind­et im Blau des Golfs. Und ein schlottern­der, aber beseelter Schnorchle­r an Bord.

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