Die Presse

Dunkelrot wie der Lebenssaft

Sizilien. Am Fuß des Ätnas wachsen die saftigsten, geschmackl­ich besten Blutorange­n der Welt. Von Dezember bis März ist Erntezeit.

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Als junger Mann verbrachte Angelo Scollo einige Jahre im kalten Norditalie­n. Angelo stammt aus Sizilien. „Es gab bei uns weder Industrie noch Fremdenver­kehr, wir lebten alle als Selbstvers­orger.“Daher wollte Angelo vor 30 Jahren unbedingt weg aus der Enge des Dorfes, wo man einander misstrauis­ch beäugte und die Alten prinzipiel­l gegen jede Veränderun­g waren. Angelo, ein stämmiger, klein gewachsene­r Mann mit grünblauen Augen, dachte damals nicht im Traum daran, die Zitrusplan­tage seiner Eltern zu übernehmen. Bis er eines Tages aus Heimweh sizilianis­che Orangen kaufte.

„Sie schmeckten scheußlich“, erinnert sich der heute 51-Jährige. An diesem Wintermorg­en rumpelt er mit einem Kleinlaste­r zur Contrada San Severino, der Hügelzone zwischen Caltagiron­e und Grammichel­e, wo sich sein Orangenhai­n befindet. Es geht vorbei an überwucher­ten Mauern aus Lavagestei­n. „Siedlungsr­este aus hellenisti­scher Zeit“, sagt der Orangenbau­er. Dann folgen Gärten mit blühenden Mispelbäum­en und Bougainvil­leen und schließlic­h die Orangenpla­ntagen. Kilometerl­ange Baumreihen, aus deren Blätterdac­h die runden Früchte hervor- leuchten. Sie prägen das Landschaft­sbild im Calatino Sud Simeto, der fruchtbare­n Region südlich von Catania. Vermutlich brachten Araber die aus Asien stammenden Vitaminspe­nder im Mittelalte­r auf Italiens größte Insel. In der Landesspra­che heißt die Blutorange „arancia rossa“, wahrschein­lich entstand sie vor Jahrhunder­ten durch Mutation. Nach Ansicht der Einheimisc­hen gedeihen die beliebtest­en Sorten – rechts: Sanguinell­e, Tarocco und Moro – so richtig nur im fruchtbare­n Hügelgebie­t am Fuß des Ätna, das vulkanisch­e Böden und ein ganz spezielles Mikroklima hat. Von hier kommt ein Großteil der europäisch­en Ernte. Die Varietät Sanguinell­e enthält am meisten Vitamin C. Die fast schwarze Moro hingegen zeichnet sich durch einen hohen Saftanteil aus, während die Tarocco mit einem ausgewogen­en Zucker-Säure-Verhältnis quasi der Volkswagen unter den sizilianis­chen Orangen ist. Anfang Dezember begann die Ernte. „Die Temperatur­en sinken zurzeit nicht unter zehn Grad. Das ist nicht gut. Damit sich Schale und Fruchtflei­sch dunkelrot färben, braucht die Orange kühle Nächte“, erklärt Angelo.

Eisenmaste­n mit Propellern

Er ist inzwischen im „agrumeto“angekommen, einem terrassier­ten Hang. Frühlingsh­aft mild scheint die Sonne. Angelo schlüpft aus seiner Windjacke und schneidet mit einem Messerchen zwei für den Laien identische Früchte vom Baum. „Zuerst die und dann die andere probieren“, sagt der 51-Jährige. Die erste schmeckt wie Oran- gen aus dem Supermarkt, die zweite überrasche­nd süß. Die süße Frucht sei reif, die andere nicht. Um eine möglichst hohe Qualität zu erzielen, staffelt Angelo die Ernte in drei Durchgänge. Er bewirtscha­ftet heute nach strengen BioRichtli­nien sieben Hektar mit Zitrusfrüc­hten. Großbetrie­be hingegen würden keinen Unterschie­d machen und in einem Rutsch gigantisch­e Plantagen abräumen. „Um die Haltbarkei­t zu erhöhen, werden die Orangen mit dem Gas Ethylen behandelt. Die Früchte sind dann praktisch mumifizier­t.“

Der Bauer steigt bis zur Hügelkuppe über seinem „agrumeto“hinauf. Von oben überblickt man ein Meer von Orangenbäu­men. Überragt wird das wogende Grün von rostigen Eisenmaste­n mit Propellern: Das Aufwirbeln der Luft soll die empfindlic­hen Früchte vor Frösten schützen. „Aber es ging nur darum, EU-Subvention­en einzustrei­fen. Die Anlagen wurden nie in Betrieb genommen“, sagt Angelo Scollo.

Dort, wo der Orangensaf­t herkommt, gibt sich Sizilien unspektaku­lär. Es ist eine stille, über weite Strecken menschenle­ere Welt ohne idyllische Häfen mit Fischerboo­ten, ohne Hotelburge­n und Restaurant­s mit englischer Speisekart­e. Entlang der Via dell’ Arancia Rossa von Caltagiron­e nach Siracusa durchquert man uraltes Bauern- land. Mit Dörfern, die wie Adlerneste­r auf Felskanzel­n kleben. Rundum Getreideäc­ker und Zitrusplan­tagen. In die Hänge, die für den Anbau zu steil sind, haben Schaf- und Ziegenherd­en spinnennet­zartige Pfade getreten.

Die „Straße der Blutorange“wurde vom Züchterkon­sortium zum Schutz der sizilianis­chen Zitrusfrüc­hte ins Leben gerufen. Mit Dorffesten, bei denen es lokale Spezialitä­ten zu verkosten gibt, sollen mehr Touristen angelockt werden. Einige Bauern vermieten Fremdenzim­mer, wer will, kann bei der Ernte mithelfen.

Das Städtchen Grammichel­e ist ein architekto­nisches Gesamtkuns­twerk, wie man es im Hinterland dieser Insel nahe bei Afrika nicht erwartet hätte. Nach einem Erdbeben 1693 wurde die Stadt streng geometrisc­h neu erbaut. Auf der einschücht­ernd großen Piazza Carafa in der Form eines Sechseckes, von der ebenso viele schnurgera­de Straßen in viereckige Stadtquart­iere führen, fühlt man sich wie in einer toskanisch­en Renaissanc­estadt. Die zahlreiche­n Kirchen, stuckverzi­erten Palazzi sowie das protzige Rathaus zeugen von Grammichel­es Glanzzeit als Handelszen­trum. Doch das ist lange her. „Wir haben das Geld, das wir als Gastarbeit­er in Deutschlan­d verdienten, in die Renovierun­g unserer Häuser gesteckt. Jetzt woh-

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