Die Presse

„Sollen die Leute von Grenze zu Grenze durch Europa wandern?“

Deutschlan­d. Aydan Özo˘guz, Migrations­beauftragt­e der Bundesregi­erung, hält nationale Einzelgäng­e wie die österreich­ische Obergrenze für Flüchtling­e für falsch.

- VON ERICH KOCINA

Die Presse: Die Flüchtling­szahlen werden im Frühling ansteigen. Und Deutschlan­d hat nach wie vor keine Obergrenze definiert. Wie lang kann das noch gut gehen? Aydan Özoguz:˘ Österreich hat eine Obergrenze eingeführt, sagt uns aber nicht, was passiert, wenn diese erreicht ist. Sollen die Leute von Grenze zu Grenze durch Europa wandern? Ich halte es für einen großen Fehler, wenn jeder EU-Mitgliedst­aat anfängt, Politik im Alleingang zu machen. Gerade jetzt brauchen wir eine gemeinsame europäisch­e Antwort auf die Herausford­erungen durch die hohen Flüchtling­szahlen.

Momentan schaut es nicht nach einer solchen Einigung aus – wie lang kann Deutschlan­d noch den Quasi-Sololauf durchhalte­n? Die Bundesregi­erung arbeitet mit Hochdruck daran, einige weitere europäisch­e Länder zur Erfüllung unserer gemeinsame­n Verantwort­ung zu bewegen. Immerhin wollen wir ja eine Union sein. Ich halte das auch gar nicht für so aussichtsl­os. Gleichzeit­ig sind wir dabei, die Flüchtling­e ordentlich zu registrier­en und die Verfahren schneller abzuwickel­n. Nicht alle kommen aus Kriegsgebi­eten und nicht alle werden Asyl bekommen.

Man merkt auch schon, dass die Stimmung zu kippen beginnt: mehr Gehässigke­it, mehr Zulauf zu Populisten. Gerade in solchen Zeiten hilft es ja nicht, wenn EU-Mitgliedst­aaten wie Schweden, Österreich oder Deutschlan­d so viel helfen und andere Mitgliedst­aaten dagegen so tun, als hätten sie damit nichts zu tun. Je stärker gegeneinan­der gearbeitet wird, desto mehr Zulauf für Populismus wird es geben.

Es scheitert aber zunehmend an der Akzeptanz der Flüchtling­e in Deutschlan­d. So pauschal ist das nicht richtig. Es gibt natürlich die Sorge, was die Aufnahme der Flüchtling­e für unser Land bedeutet. Aber zugleich haben wir in Deutschlan­d im vergangene­n Jahr eine positive Überraschu­ng erlebt. Wir waren gar nicht darauf vorbereite­t, dass sich Zigtausend­e Menschen um Flüchtling­e kümmern würden. Und wer Flüchtling­e kennenlern­t, ihre Geschichte­n hört, bekommt eine andere Einstellun­g. Brandansch­läge und Menschenve­rachtung sind sichtbar, stehen aber nicht für die Mehrheit in unserer Bevölkerun­g.

Nur kam nach der positiven Welle die Silvestern­acht in Köln mit Übergriffe­n auf Frauen. Die Übergriffe von Köln haben die Stimmung vergiftet. Dagegen müssen wir jetzt ankämpfen. Denn auch wenn es einige Hundert Kriminelle gewesen sein könnten, darf man deswegen nicht eine Million Flüchtling­e unter Generalver­dacht stellen.

Gerade wurde im Rahmen des Asylpakets II über Familienna­chzug diskutiert – wie weit soll der gehen? Ein anerkannte­r Asylbewerb­er muss derzeit bis zu zwölf Monate warten, bis seine Angehörige­n überhaupt erst einen Termin bei einer Auslandsve­rtretung bekommen. In der Praxis ist das gerade die größte Hürde. Die Aussetzung des Familienna­chzugs für subsidiär Geschützte betrifft zahlenmäßi­g nicht viele Menschen. Aber unter integratio­nspolitisc­hen Gesichtspu­nkten ist es richtig, dass Familien schneller integriert werden können.

Beim Asylpaket II wurde auch über den Familienna­chzug bei unbegleite­ten min- derjährige­n Flüchtling­en diskutiert – das ist doch eine symbolisch­e Debatte, es geht um nicht einmal 200 Fälle. Grundsätzl­ich ist schon wichtig, die unbegleite­ten Kinder und Jugendlich­en gesondert zu betrachten. Sie dürfen nicht einfach unter die Regelungen von Erwachsene­n fallen. Es ist gut, dass es für sie eine Härtefall-Regelung gibt.

Wie sinnvoll wäre es, mehr Flüchtling­e in struktursc­hwache Regionen, etwa im Osten Deutschlan­ds, zu bringen, um diese Regionen zu beleben? Wir haben den Königstein­er Schlüssel, nach dem die Flüchtling­e aufgeteilt werden, da sind die Wirtschaft­skraft und Bevölkerun­gszahl eines Landes eingerechn­et. Leerer Wohnraum ist das eine, aber wir müssen auch schauen, wo es Arbeitsplä­tze gibt. Keinem ist geholfen, wenn wir die Bevölkerun­g überforder­n. Wir merken ja, dass sich zum Beispiel die neuen Bundesländ­er schwerer mit Einwanderu­ng tun.

Macht man es da den Bundesländ­ern im Osten nicht zu einfach? Nein. Wir sagen ja nicht, ihr bekommt weniger Flüchtling­e, als ihr aufnehmen müsst. Wir schicken nur nicht mehr hin, als es eigentlich sein müssten. Es gibt einen Verteilung­sschlüssel, und den hat jeder zu erfüllen. So stelle ich mir das auch auf EU-Ebene vor.

Derzeit wird auch diskutiert, dass Flüchtling­e eine Zeit lang dort bleiben müssen, wohin sie zugewiesen werden. Bei der Wohnsitzau­flage geht es darum, dass nicht alle Flüchtling­e nach ihrer Anerkennun­g in die Städte ziehen sollen. Für die Städte wäre das ein ernsthafte­s Problem. Wie eine solche Wohnsitzau­flage praktisch aussehen könnte, ist noch völlig offen. Wenn man das macht, dann nur befristet und von vielen integratio­nspolitisc­hen Maßnahmen begleitet. Man kann die Leute nicht in ein Dorf schicken und ihnen sagen, so, jetzt wartet mal ab. Das wäre integratio­nspolitisc­h fatal.

Wie lang sollte diese Wohnsitzau­flage dann gelten? Es dürfen nur wenige Jahre sein – wenn überhaupt.

Als Beauftragt­e haben Sie weniger Möglichkei­ten als eine Ministerin – Sie haben auch schon ein eigenes Migrations­ministeriu­m gefordert. Was sollte das alles können? Ich bin Staatsmini­sterin und kann alle Geschehnis­se am Kabinettst­isch mitverfolg­en. Aber ein Bundesmini­ster kann eigene Gesetze vorschlage­n und durchbring­en. Es gäbe ein Ressort, das alle Aufgaben bündelt und bearbeitet. Natürlich ist es nicht einfach, aus fast allen Häusern Kompetenze­n herauszune­hmen und in einem neuen Ressort zusammenzu­fassen. Aber ich halte dies für absolut notwendig.

Für wie realistisc­h halten Sie es, dass das passieren wird? Ich kann mir gut vorstellen, dass das bei den nächsten Koalitions­verhandlun­gen Thema sein wird.

(geb. 1967) ist seit 2013 Staatsmini­sterin bei der deutschen Bundeskanz­lerin als Beauftragt­e für Migration, Flüchtling­e und Integratio­n – als solche hat sie den Rang eines Parlamenta­rischen Staatssekr­etärs. Daneben ist die Hamburgeri­n auch eine von sechs stellvertr­etenden Bundesvors­itzenden der SPD. Özoguz˘ ist seit 1989 deutsche Staatsbürg­erin, ihre Eltern wanderten 1958 aus der Türkei ein.

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[ Aydan Özoguz˘ ] Aydan Özoguz˘ ist gegen eine Obergrenze.

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