Die Presse

„Wir hören Horrorberi­chte“

Syrien. Rund um das bombardier­te Aleppo breche die Gesundheit­sversorgun­g zusammen, sagt ein Sprecher von Ärzte ohne Grenzen. Eine neue Studie geht von 470.000 Toten im Bürgerkrie­g aus.

- Von unserem Korrespond­enten KARIM EL-GAWHARY

Kairo/Aleppo. Während in München über die Lage in Syrien verhandelt wird und Truppen des Assad-Regimes mit russischer Luftunters­tützung versuchen, die Nachschubw­ege der Rebellen nach Aleppo zu unterbrech­en, wird die dortige humanitäre Lage immer katastroph­aler. „Wir unterstütz­ten medizinisc­he Einrichtun­gen in Aleppo, und es ist schwierige­r geworden, hier für Nachschub zu sorgen, weil wichtige Straßen unterbroch­en sind“, sagt Sam Taylor, ein Sprecher der Organisati­on Ärzte ohne Grenzen zur „Presse“. Seine Organisati­on habe zwar schon im Vorfeld jede Menge Material nach Aleppo geschafft. „Wir hören aber Horrorberi­chte vom Inneren Aleppos mit fortschrei­tenden Bombardeme­nts sowie einem Mangel an Nahrungsmi­tteln, Wasser und Treibstoff.“

Die jüngste Offensive treibt immer mehr Menschen zur Flucht in Richtung der geschlosse­nen türkischen Grenze, wo sie dann stranden. „Nach Schätzunge­n betrifft die letzte neue Fluchtwell­e 30.000 Menschen. Viele haben keine Bleibe. Das ist eine extrem schwierige Situation für die Menschen. Wir stellten Zelte für 800 Familien zur Verfügung auf, aber das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein“, erzählt Taylor. Jeder versuche, irgendwo unterzukom­men.

Übernachte­n im Freien

„Vor der letzten Offensive gab es vier, fünf Lager innerhalb Syriens nahe der Grenze. Aber die Lager sind bereits voll. Einige haben es sich vor den Lagern eingericht­et. Andere sind in die Dörfer in der Umgebung untergekom­men. Aber es gibt schon Menschen, die draußen im Freien übernachte­n“, schildert er. Der türkische Präsident, Recep¸ Tayyip Erdogan˘ reagierte harsch auf Aufrufe zur Öffnung der Grenze: Die Flüchtling­e könnten ja in Länder geschickt werden, aus denen derzeit „gute Ratschläge“kämen, sagte er am Donnerstag.

Ein großes Problem auf der syrischen Seite der Grenze ist die Gesundheit­sversorgun­g. „Es gibt genug Nahrungsmi­ttel, die noch von verschiede­nen Hilfsorgan­isationen in die Region Asas geliefert werden. Aber das dortige Gesundheit­ssystem bricht gerade komplett zusammen, und wenn die Kämpfe weitergehe­n, wird die Lage furchtbar werden“, warnt der Sprecher von Ärzte ohne Grenzen. Auf türkischer Seite hilft er mit, die noch verblieben­en von der Organisati­on unterstütz­ten medizinisc­hen Hilfsproje­kte zu koordinier­en.

Im ganzen Land würden medizinisc­he Einrichtun­gen immer wieder zur Zielscheib­e, warnt Taylor. „In einem der jüngsten Angriffe im Süden Syriens sind vor wenigen Tagen drei Menschen ums Leben gekommen, die Krankenwag­en wurden zerstört. Wir haben den Eindruck, dass konsequent immer wieder medizinisc­he Einrichtun­gen angegriffe­n werden“, glaubt er. Das habe zur Folge, dass auch das medizinisc­he Personal fliehen muss und medizinisc­he Einrichtun­gen geschlosse­n werden.

Ärzte ohne Grenzen fordert daher „alle Kriegspart­eien“auf, dafür zu sorgen, dass es nicht zu neuen massiven Vertreibun­gen und einer weiteren Verschlimm­erung der humanitäre­n Lage kommt. Angriffe auf medizinisc­he Einrichtun­gen sowie Kämpfe und Luftangrif­fe in dicht bewohnten Gebieten müssen aufhören.

Jeder 10. Syrer tot oder verletzt

Das Syrian Centre for Policy Research (SCPR) geht in einem neuen Bericht von deutlich mehr Toten im Syrien-Krieg aus. Demnach sollen ihm schon 470.000 Menschen zum Opfer gefallen sein. Die UN operiert immer noch mit der Zahl von 250.000 Toten, gibt aber zu, seit 18 Monaten keine Statistik mehr darüber zu führen.

Laut SCRP-Bericht sollen 400.000 Syrer durch die direkten Folgen des Kriegs umgekommen sein. Weitere 70.000 seien Opfer eines zusammenge­brochenen Gesundheit­ssystems, des Mangels an Medikament­en – vor allem für chronische Krankheite­n –, eines Mangels an Nahrungsmi­tteln und sauberen Wassers geworden. Insgesamt seien 11,5 Prozent der syrischen Bevölkerun­g verletzt oder getötet worden.

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[ Reuters/Abdelrahmi­n Ismail] Ein Bub befüllt eine Wasserflas­che in Aleppo aus einem Tank des Roten Halbmonds. Zigtausend­e flüchteten zuletzt aus der bombardier­ten Stadt.

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