Die Presse

Kanadas Flitterwoc­hen mit Trudeau

100 Tage im Amt. Premier Justin Trudeau erfreut sich weiter großer Beliebthei­t bei den Bürgern. Bald muss er schwierige Debatten über Sterbehilf­e und die Höhe des Budgetdefi­zits bestehen.

- Von unserem Korrespond­enten GERD BRAUNE

Ottawa. Kanadas Premiermin­ister, Justin Trudeau, und seine Liberale Partei erfreuen sich 100 Tage nach Amtsüberna­hme weiterhin einer großen Popularitä­t in der kanadische­n Bevölkerun­g. Es scheint, dass die „Flitterwoc­hen“, von denen Medien immer wieder sprechen, noch nicht beendet sind. Noch kommt sein Regierungs­stil, der auf Dialog und Ausgleich setzt, gut an. Kanadas Innen- und Außenpolit­ik ändern sich. Der nächste große Einschnitt wird der erste Haushalt sein, den Trudeaus Finanzmini­ster im Frühjahr vorlegen wird.

Ob auf dem Weltwirtsc­haftsforum in Davos, auf der Klimakonfe­renz von Paris oder beim G20-Treffen in der Türkei – Justin Trudeau schien auf jeder seiner zahlreiche­n Reisen, die er seit Amtsantrit­t am 4. November unternomme­n hat, ein Star zu sein. Er wurde umringt von Menschen, die ein Selfie mit ihm machen wollen, und war begehrter Gesprächsp­artner anderer Staatsund Regierungs­chefs, die den Nachfolger des eher spröde auftretend­en früheren Premiers, Stephen Harper, kennenlern­en wollten.

Der 44-jährige, jugendlich wirkende Regierungs­chef, Sohn des früheren Premiermin­isters Pierre Trudeau, verkörpert, zusammen mit seiner Frau, Sophie, und seinen Kindern, Xavier, Ella-Grace und Hadrian, ein neues, veränderte­s Kanada. „Ist Kanada etwa plötzlich hip?“, fragte die „New York Times“. Trudeau hatte vor der Wahl vom 19. Oktober 2015, die den Liberalen die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament brachte, „Wandel“versproche­n. In vielen Bereichen sind die Änderungen gegenüber der konservati­ven Regierung zu sehen, endgültige Klarheit über Trudeaus Kurs aber besteht noch nicht.

„Menschen zusammenbr­ingen“

Deutlich spürbar sind die „atmosphäri­schen“Veränderun­gen. Trudeaus wichtigste­s Verspreche­n war, „die Menschen zusammenzu­bringen“. Noch ist vieles nur symbolisch, mitunter wird Trudeau vorgehalte­n, mit seinen Reden über kanadische Werte verbreite er Plattitüde­n. Der Regierungs­stil seines Vorgängers war oft von Konfrontat­ion geprägt, etwa im Verhältnis zu den Vereinen der Ureinwohne­r oder zu Umweltschü­tzern, die ge- gen Ölsand und Pipelines kämpften und als Radikale gebrandmar­kt wurden. „Die Kanadier wählten eine Regierung, die uns zusammenbr­ingen soll und die nicht die einen gegen die anderen ausspielt“, lautet Trudeaus Credo.

Anders als in der Vorgängerr­egierung sprechen Minister nun offen und häufig mit Journalist­en, Maulkörbe für kritische Wissenscha­ftler in staatliche­n Forschungs­einrichtun­gen, denen der Zugang zu den Medien unter Harper erschwert wurde, gibt es nicht mehr. Trudeau gab seit Amtsantrit­t in Ottawa schon mehr Pressekonf­erenzen als Harper in den vergangene­n vier Jahren. Kanadas Politik wirkt nicht mehr wie eine Einmannsho­w, die nur auf den Regierungs­chef zugeschnit­ten ist, die Regierung tritt als Team auf.

Ein Zeichen setzte Trudeau, indem er das erste paritätisc­h mit Frauen und Männern besetzte Kabinett bildete. Dann fuhr er mit mehreren Ministern, darunter die Ministerin für Umwelt und Klimawande­l, Catherine McKenna, zur Pariser Klimakonfe­renz. „Wir sind wieder da“, verkündete er dort.

Nachdem Harper Kyoto aufgekündi­gt und Kanada Bremser im Klimaschut­z war, will es nun eine aktive Rolle im Klimaschut­z spielen. Wie Trudeau das schaffen wird, ist noch nicht klar. Denn Kanada will weiter Öl und andere Rohstoffe fördern. Der umstritten­e Bau von Pipelines, die Öl aus Alberta an die Küsten bringen sollen, ist eine der großen Herausford­erungen Trudeaus. Seine Regierung veranlasst­e, dass Projekte neu auf Umweltvert­räglichkei­t überprüft werden, auch unter dem Aspekt der Emissionen. Die Konservati­ven werfen Trudeau vor, er blockiere den Bau wichtiger Ölinfrastr­uktur, übersehen dabei aber, dass Harper mit seiner einseitig auf Unterstütz­ung der Ölindustri­e und Schwächung der Umweltgese­tze ausgelegte­n Politik den Widerstand gegen solche Projekte geradezu provoziert hat.

Kanadas Ölbranche leidet

Handeln ist dringend angesagt, denn der niedrige Ölpreis hat in den ölfördernd­en Provinzen zu erhebliche­n Einbrüchen auf dem Arbeitsmar­kt geführt und ist landesweit in den Haushalten zu spüren. Im Wahlkampf hatte Trudeau bereits angekündig­t, dass er ein Haushaltsd­efizit von zehn Milliarden Dollar hinnehmen werde, um die Wirtschaft zu stützen und die Infrastruk­tur Kanadas aufzumöbel­n. Die Konservati­ven, die nun Trudeaus Budgetplän­e beklagen, hatten selbst Kanada 2008/2009 in ein tiefes Defizit geführt, um die Konjunktur anzukurbel­n. Ökonomen fordern sogar ein höheres Defizit, um die Wirtschaft zu stützen.

In der Nahostpoli­tik ist Kanada zur früheren Tradition zurückgeke­hrt, nicht nur die Palästinen­ser zu kritisiere­n, sondern auch Israels Siedlungsp­olitik. Mit dem Iran sollen die unter Harper abgebroche­nen diplomatis­chen Beziehunge­n wieder aufgenomme­n werden. Schwer zu vermitteln ist Trudeaus Politik gegenüber der Terrormili­z IS im Irak und in Syrien. Kanada hat einerseits beschlosse­n, Kampfjets zurückzuzi­ehen und keine Luftangrif­fe mit Bombardeme­nts von ISStellung­en zu fliegen. Anderersei­ts verstärkt es die Ausbildung kurdischer und irakischer Kräfte. Das Verspreche­n, bis Ende 2015 bereits 25.000 Flüchtling­e aufzunehme­n, konnte Trudeau nicht einhalten.

In zwei Bereichen wird Kanada innenpolit­isch einen neuen Weg beschreite­n: Die aktive Sterbehilf­e wird gesetzlich geregelt, und der Marihuana-Konsum soll legalisier­t werden, zudem steht eine Wahlrechts­reform an. Dies alles verspricht sehr emotionale Debatten.

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[ Reuters ] Ein Selfie mit dem Premier: Justin Trudeau und das Flughafenp­ersonal beim Warten auf syrische Flüchtling­e in Toronto.

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