Die Presse

Wörtern gönnt man ungern neue Frisuren

Der Tod des französisc­hen Zirkumflex ist ein Gerücht. Er wird seltener – wo er sinnlos geworden ist. Der Zirkumflex ziert viele Wörter wie eine Frisur – hübsch, aber sinnlos.

- Anne-catherine.simon@diepresse.com

Die meisten Menschen, die rechtschre­iben können (oder glauben, dass sie es tun), sind orthografi­sch konservati­v. Wörter sollen aussehen, wie man sie gewohnt ist und man sie gelernt hat – war ja mühsam genug. Der Rest der Welt ändert sich eh so rasant.

Wenn dann die Nachricht kommt, dass ein Zeichen, sei’s auch noch so klein, aus der eigenen Sprache verschwind­en soll, ist die Empörung programmie­rt. So beklagten in Frankreich letztens viele den „Tod“des Zirkumflex. Dieses Dacherl, das sich in manchen Wörtern auf Vokalen findet, werde abgeschaff­t, hieß es. Ab dem nächsten Schuljahr.

Aber gerade weil plötzliche Veränderun­gen der Sprache so unbeliebt sind, sind es meist gar keine. Richtig radikale Rechtschre­ibrefor- men passieren viel seltener als die Gerüchte darüber. Ein solches ist auch der Tod des Zirkumflex. Es wird ihn seltener geben, das ja. Das wusste man freilich seit vielen Jahren.

Schon 1990 hatte die Academie´ francaise,¸ die Sprachhüte­rin der Nation, eine große Rechtschre­ibreform entworfen, um das Schreibenl­ernen zu vereinfach­en. Diese wurde heftig bekämpft, die neuen Regeln waren aber ohnehin unverbindl­ich.

2008 rief das Erziehungs­ministeriu­m dennoch die Schulen auf, sich an die neuen Regeln zu halten. Seitdem ist nichts Neues passiert, außer dass die Schulbuchv­erlage für das kommende Schuljahr zum ersten Mal nur Bücher nach der neuen Rechtschre­ibung produziere­n. Doch die Erziehungs­ministerin betont: Die alte bleibt ebenfalls gültig.

Im Vergleich zur deutschen Rechtschre­ibreform ist die französisc­he also höchst zaghaft. Und der angebliche Tod des Zirkumflex? Auf dem a, e und o bleibt er, auf dem i und dem u braucht man ihn nicht mehr. Im Prinzip. Tatsächlic­h gibt es jede Menge Ausnahmen – etwa wenn durch den Zirkumflex Wortverwec­hslungen vermieden werden, zum Beispiel von „mur“, „Mauer“, und „muˆr“, „reif“.

Weil er unterschei­den kann, zählt man den Zirkumflex zu den diakritisc­hen Zeichen. Er kann auch die Betonung von a, e oder o bestimmen. Oder verschwund­ene Laute anzeigen, meist ein „s“; als er im 17. Jahrhunder­t aufkam, mochte das sinnvoll erscheinen, aber heute? Wollte man alle in den vergangene­n Jahrhunder­ten von der Sprache „verschluck­ten“Laute anzeigen, hätte ein großer Teil der Wörter eine Struwwelpe­terfrisur aus Zusatzzeic­hen.

Der Zirkumflex ziert die Vokale wie ein ordentlich­er Haarschnit­t, zumindest suggeriert die Sprache das, die Franzosen verwenden das Verb „coiffer“dafür. Menschen lieben neue Frisuren – aber nur bei sich selbst, nicht bei Wörtern.

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VON ANNE-CATHERINE SIMON

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