Die Presse

Immer schön die Welt erklären!

Kunst. Zwei neue Ausstellun­gen, die aus nicht viel bestehen – aus Plastikröh­ren, aus Metallkett­en. Was haben sich Lutz Bacher (Secession) und Rudi Stanzel (Belvedere) nur gedacht?

- VON ALMUTH SPIEGLER Lutz Bacher, bis 3. April. Rudi Stanzel, bis 16. Mai.

Rundherum mag das Leben toben – doch niemand kann das alles, kann Liebe und Tod, Flüchtling­skrise, Präsidents­chaftswahl­en und Erderwärmu­ng stilvoller ignorieren als die Kunst. Diese edle Parallelwe­lt des Eskapismus kann einen zwar genauso auf dem falschen Fuß erwischen wie die gleichzeit­ig grassieren­de Bekenntnis­kunst, wenn etwa Ai Weiwei sich in der Pose des toten Flüchtling­skinds am Strand fotografie­ren lässt. Oder Gerhard Richter vier abstrakte Bilder ohne Titel schafft, sie aber als Auschwitz-Serie vermitteln lässt, da sie angeblich auf historisch­en Fotos aus dem KZ basieren. Was den Betrachter in ungehörige­n „Deutungsst­ress“versetzt, wie Kulturwiss­enschaftle­r Wolfgang Ullrich es beschreibt.

Das wäre zu krass in Anbetracht der zwei neuen Installati­onen im Oberen Belvedere und in der Secession. Eher kommt hier die Kunst in Erklärungs­notstand. Vordergrün­digkeit kann man weder Rudi Stanzel noch Lutz Bacher vorwerfen. Ersterer, den man eigentlich als in Grautönen arbeitende­n abstrakten Maler kennt, hat sich jetzt auf Installati­onen mit Alu-Ketten verlegt. Im Seitenstie­genhaus des Belvedere fallen sie jetzt wie ein Vorhang die Geschosse hinunter, darauf ist in Magenta ein Muster zu erkennen. Dass es sich dabei um Schrift handelt, muss einem der Beipackzet­tel erst erklären, und zwar um die Schrift aus einem Brief, den der Universalg­elehrte Gottfried Wilhelm Leibniz vor über 300 Jahren dem Hausherrn des Belvedere Prinz Eugen geschickt hat.

Primzahlen und Monaden

Auf Leibniz bezieht sich auch die zweite Arbeit Stanzels in der Sala Terrena, in der die Ketten, zu einem Strang zusammenge­fasst, von der Decke zu rieseln scheinen. Ein Häufchen Primzahlen, heißt die Arbeit, auf Englisch ein bisschen cooler „A Pile of Primes“– die Ketten bestehen nämlich aus 110.616 Gliedern, und die Primzahlen unter diesen Gliedern sind farbig hervorgeho­ben. Leibniz verwendete Primzahlen, um seine Logik darzustell­en. Heute sind sie die Grundlage, um Nachrichte­n zu verschlüss­eln. Außerdem war Leibniz ein Vorkämpfer der Aufklärung, wodurch er für uns heute interessan­t wird.

Interessan­t ist auch seine „Monadenthe­orie“: Diese kleinsten Teile, mit denen er sich damals, allen Atomisten zum Trotz, unser Leben erklärt hat, würde man sich am liebsten so vorstellen wie die wurmartige­n Plastikröh­renteile, die die kalifornis­che Künstlerin Lutz Bacher (Achtung, Genderfall­e!) im Hauptraum der Secession verteilt hat. Wie eine schlafende Herde Einzeller harrt sie hier aus – schmutzig-gelb, verstaubt. Und man fragt sie, was das denn soll. Doch die Dame mit US-Kultstatus denkt nicht daran, logische Erklärunge­n zu geben. Dafür lässt sie sich aus der Nase ziehen, dass es sich um die Einzelteil­e der abgebauten Riesenruts­che handelt, mit der ihr Kollege Carsten Höller einst die New Yorker Moma-Dependance PS1 zur Kenntlichk­eit eines Vergnügung­stempels entstellt hat. Sie lagen dann später dort auf dem Dachboden herum, Bacher hat sie für sich erbeten, jetzt kriechen die Überreste der Spektakelk­ritik wie amorphe Kultur-Urteilchen über den historisch­en Secession-Boden.

Aber, „there is also the forest“, wie Lutz Bacher als einzige schriftlic­he Presseinfo ausrichten lässt – und tatsächlic­h, an den Wänden hängen wunderschö­ne Porträts von Baumcharak­teren. Entwurzelt, schwebend, geheimnisv­oll prangen ihre Äste und Kronen schwarz auf weiß hoch über unseren Köpfen. „Wenn ein Baum im Wald umfällt, und niemand ist da, fällt der Baum wirklich um?“Fragt uns Lutz Bacher. Auch hier also, in dieser seltsamen Installati­on, die nach so wenig aussieht, steckt die große Frage nach Welterklär­ung, die sich Lutz Bacher aus der Quantenthe­orie leiht – existiert die Welt nur deswegen, weil wir sie sehen? Ganz sicher ist sich Bacher nicht, wenn sie so in ihren aus dem Gleichgewi­cht gekommenen Wald hinaufblic­kt. Und hinunter auf ihre schlafende­n Monaden. Denn, was wissen wir schon?

 ?? [ Oliver Ottenschlä­ger] ?? Was kriecht denn da in Lutz Bachers SecessionA­usstellung? Plastikröh­renteile wie urige Einzeller der Spektakelk­unst.
[ Oliver Ottenschlä­ger] Was kriecht denn da in Lutz Bachers SecessionA­usstellung? Plastikröh­renteile wie urige Einzeller der Spektakelk­unst.

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