Immer schön die Welt erklären!
Kunst. Zwei neue Ausstellungen, die aus nicht viel bestehen – aus Plastikröhren, aus Metallketten. Was haben sich Lutz Bacher (Secession) und Rudi Stanzel (Belvedere) nur gedacht?
Rundherum mag das Leben toben – doch niemand kann das alles, kann Liebe und Tod, Flüchtlingskrise, Präsidentschaftswahlen und Erderwärmung stilvoller ignorieren als die Kunst. Diese edle Parallelwelt des Eskapismus kann einen zwar genauso auf dem falschen Fuß erwischen wie die gleichzeitig grassierende Bekenntniskunst, wenn etwa Ai Weiwei sich in der Pose des toten Flüchtlingskinds am Strand fotografieren lässt. Oder Gerhard Richter vier abstrakte Bilder ohne Titel schafft, sie aber als Auschwitz-Serie vermitteln lässt, da sie angeblich auf historischen Fotos aus dem KZ basieren. Was den Betrachter in ungehörigen „Deutungsstress“versetzt, wie Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich es beschreibt.
Das wäre zu krass in Anbetracht der zwei neuen Installationen im Oberen Belvedere und in der Secession. Eher kommt hier die Kunst in Erklärungsnotstand. Vordergründigkeit kann man weder Rudi Stanzel noch Lutz Bacher vorwerfen. Ersterer, den man eigentlich als in Grautönen arbeitenden abstrakten Maler kennt, hat sich jetzt auf Installationen mit Alu-Ketten verlegt. Im Seitenstiegenhaus des Belvedere fallen sie jetzt wie ein Vorhang die Geschosse hinunter, darauf ist in Magenta ein Muster zu erkennen. Dass es sich dabei um Schrift handelt, muss einem der Beipackzettel erst erklären, und zwar um die Schrift aus einem Brief, den der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz vor über 300 Jahren dem Hausherrn des Belvedere Prinz Eugen geschickt hat.
Primzahlen und Monaden
Auf Leibniz bezieht sich auch die zweite Arbeit Stanzels in der Sala Terrena, in der die Ketten, zu einem Strang zusammengefasst, von der Decke zu rieseln scheinen. Ein Häufchen Primzahlen, heißt die Arbeit, auf Englisch ein bisschen cooler „A Pile of Primes“– die Ketten bestehen nämlich aus 110.616 Gliedern, und die Primzahlen unter diesen Gliedern sind farbig hervorgehoben. Leibniz verwendete Primzahlen, um seine Logik darzustellen. Heute sind sie die Grundlage, um Nachrichten zu verschlüsseln. Außerdem war Leibniz ein Vorkämpfer der Aufklärung, wodurch er für uns heute interessant wird.
Interessant ist auch seine „Monadentheorie“: Diese kleinsten Teile, mit denen er sich damals, allen Atomisten zum Trotz, unser Leben erklärt hat, würde man sich am liebsten so vorstellen wie die wurmartigen Plastikröhrenteile, die die kalifornische Künstlerin Lutz Bacher (Achtung, Genderfalle!) im Hauptraum der Secession verteilt hat. Wie eine schlafende Herde Einzeller harrt sie hier aus – schmutzig-gelb, verstaubt. Und man fragt sie, was das denn soll. Doch die Dame mit US-Kultstatus denkt nicht daran, logische Erklärungen zu geben. Dafür lässt sie sich aus der Nase ziehen, dass es sich um die Einzelteile der abgebauten Riesenrutsche handelt, mit der ihr Kollege Carsten Höller einst die New Yorker Moma-Dependance PS1 zur Kenntlichkeit eines Vergnügungstempels entstellt hat. Sie lagen dann später dort auf dem Dachboden herum, Bacher hat sie für sich erbeten, jetzt kriechen die Überreste der Spektakelkritik wie amorphe Kultur-Urteilchen über den historischen Secession-Boden.
Aber, „there is also the forest“, wie Lutz Bacher als einzige schriftliche Presseinfo ausrichten lässt – und tatsächlich, an den Wänden hängen wunderschöne Porträts von Baumcharakteren. Entwurzelt, schwebend, geheimnisvoll prangen ihre Äste und Kronen schwarz auf weiß hoch über unseren Köpfen. „Wenn ein Baum im Wald umfällt, und niemand ist da, fällt der Baum wirklich um?“Fragt uns Lutz Bacher. Auch hier also, in dieser seltsamen Installation, die nach so wenig aussieht, steckt die große Frage nach Welterklärung, die sich Lutz Bacher aus der Quantentheorie leiht – existiert die Welt nur deswegen, weil wir sie sehen? Ganz sicher ist sich Bacher nicht, wenn sie so in ihren aus dem Gleichgewicht gekommenen Wald hinaufblickt. Und hinunter auf ihre schlafenden Monaden. Denn, was wissen wir schon?