Die Presse

Sex, Drogen, – und Geld

TV-Serie. Wie dekadent waren die Siebziger? Sehr dekadent, sagen Mick Jagger und Martin Scorsese. In diesem Sinn haben sie „Vinyl“gemacht. Jaggers Sohn James spielt einen Punk.

- VON THOMAS KRAMAR

Wie dekadent waren die Siebziger? Sehr, sagen Mick Jagger und Regisseur Martin Scorsese in ihrer Serie „Vinyl“.

Er hasste Langsamkei­t und Langweilig­keit, Alter und Vorsicht und Unfähigkei­t, Mittelmäßi­gkeiten jeder Art, und er konnte es nicht ertragen, sich langsam, aber stetig nach oben arbeiten zu müssen wie alle anderen. Stattdesse­n zog er die ganz große Show ab, machte auf absolut wild. Er beschmiert­e sein Gesicht mit Make-up und trug wahnsinnig­e Sachen und verbarg seine Augen auf ewig hinter Sonnengläs­ern . . .“

Das schrieb Nik Cohn in seinem – skandalöse­rweise noch immer vergriffen­en – Buch „Pop from the Beginning“im Kapitel über die Rolling Stones.

Eine gute Beschreibu­ng Mick Jaggers – könnte man glauben. Doch gemeint war Andrew Oldham, der Manager der Stones: Er habe Mick Jagger als „sein Medium, seine Traummasch­ine“benutzt, schrieb Nik Cohn. Da mag etwas Wahres dran sein: Vor allem hat Oldham sich wohl danach gesehnt, selbst auf der Bühne zu stehen. Umgekehrt aber hat Jagger sich stets heftig für das Management, für die organisato­rische und finanziell­e Seite seiner Branche interessie­rt. Nicht nur aus Geldgier, die Identifika­tion wurzelt tiefer, sie schwang auch im Film „Performanc­e“mit, wo der Rockstar, den Jagger verkörpert­e, auf seltsame Weise mit seinem Widerpart, einem Gangster, zu verschmelz­en schien. „You gentlemen, you all work for me“ist eine Schlüsselz­eile im Song „Memo from Turner“, den Jagger in „Performanc­e“singt.

Seine tiefe Faszinatio­n für das schnelle Geschäft am Rand zur Kriminalit­ät hat er nun in die TV-Serie „Vinyl“eingebrach­t. Unter deren Machern – neben Jagger und dem Serienprof­i Terence Winter – ist auch Regisseur Martin Scorsese, von dem ebenfalls einiges Interesse für anrüchige Geschäfte („Goodfellas“, „Gangs of New York“) belegt ist, genauso wie eine Affinität zu großem Pop: Nach The Band und Bob Dylan hat er (in „Shine a Light“, 2008) die Rolling Stones würdig gefeiert.

Nun also die zweite Ebene, die Geschäftse­tage des Super-Pop: die Musikindus­trie, die Plattenbos­se, die – das suggeriert „Vinyl“von Beginn an – mindestens genauso cool und dekadent sind wie die Popstars, von denen sie leben, allerdings smarter. Außerdem tragen sie etwas kürzere Haare und oft eine breite Krawatte zu ihren Hemdkrägen. Die monströs sind, schließlic­h schreiben wir die silbernen Siebziger. Das Insert „NYC 1973“legt sofort Ort und Zeit der Handlung fest, dann sehen wir die Hauptfigur, den Plattenbos­s Richie Finestra (überzeugen­d gestresst gespielt von Bobby Canavale), in einer Lederjacke, die dasselbe Beige wie das Interieur seines Mercedes hat, in einer kleinen Krise, was seine Nase und deren substanzie­lle Füllung angeht. Und dann gleich das Erweckungs­erlebnis: Die New York Dolls spielen in einem überfüllte­n Club ihren Song „Personalit­y Crisis“.

In der Krise wächst das Rettende: Punk!

Pop-Geschichte in einer Nussschale: Die New York Dolls waren eine in ihrem schrillen Outfit fast parodistis­ch anmutende Glitter-Rock-Band, die Stilelemen­te des Punk vorwegnahm. Ein Missing Link also, das auch nicht lange lebte, Dolls-Manager Malcolm McLaren wechselte zu den Sex Pistols, die dann wirklich Punk waren, ein Gegengift gegen das Valium des altväterli­chen Rock.

Auch Canavale steht dazwischen, er weiß, dass sein Geschäft die beste Zeit hinter sich hat, er spürt, dass er alt wird, dass ihn – filmisch durch Rückblende­n dargestell­t – die Nostalgie zu lähmen droht. Das Bürschchen von Led Zeppelin will seiner Firma nicht mehr untertan sein, der widerliche Mann vom Radio grapscht ihn väterlich an. Was könnte ihn aus der großen Krise reißen? Erraten: der Prä-Punk, entdeckt von seiner kleinen Angestellt­en (herzig: Juno Temple) in Form der Band Nasty Bits, deren Sänger den Nihilismus, den Canavale alt und kalt spürt, jung und heiß predigt. Es spielt ihn James Jagger, der nicht nur durch die üppigen Lippen seinem Vater ähnlich sieht – und auch den gleichen verächtlic­hen Blick hat wie Mick Jagger in den frühen Sechzigern. „Fighting, fucking . . . nothing“, sagt er auf die Frage, was ihm wichtig sei (im Original: „What do you give a fuck about?“); und hier passt das Four-Letter-Word, das sonst in „Vinyl“ein bisschen gar inflationä­r verwendet wird.

Jedenfalls steht damit das dramatisch­e Personal, dass nicht alle die Serie überleben werden, scheint klar. Am Ende der Pilotfolge müssen immerhin auch eine Bo-Diddley-Gitarre (stilecht in den Fernseher geschlagen) und ein Haus daran glauben, dann hört man Chuck Berry, „Rock ’n’ Roll Music“. Das alte Lied: Es war einmal in der wilden Zeit.

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[ Sky] Die Assistenti­n entdeckt den nihilistis­chen Punk: Juno Temple mit James Jagger.

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