Die Presse

Woher? Wohin?

Neuland erkunden, Wagnisse eingehen, aufbrechen ins Offene: wie schön, wie jung, wie mutig! Aber ach, nicht jeder Aufbruch verdient diesen Namen. Woher? Wohin? Eine kleine Philosophi­e des Aufbruchs.

- Von Konrad Paul Liessmann

Eine kleine Philosophi­e des Aufbruchs von Konrad Paul Liessmann.

Nur aus einem Ruhezustan­d, einer Phase der Immobilitä­t lässt sich aufbrechen. Das Mindeste, was einem Aufbruch vorhergehe­n muss, ist die Rast, das Äußerste, was zu ihm treibt, kann ein Zustand sein, der ein Verweilen zunehmend unerträgli­ch macht. – Jeder Aufbruch ist ambivalent. Wir können nicht leben, ohne nicht immer wieder zu etwas Neuem aufzubrech­en, und doch durchzieht die Trauer des Abschieds so manchen Aufbruch. Dass es Zeit sei, aufzubrech­en – wer, der in geselliger Runde diese Mahnung hört, spürt nicht das unangenehm Fordernde des Aufbruchs. Manchmal bricht man auch auf – aus einem Restaurant, aus einer Gesellscha­ft, aus dem Urlaub, aus der Fremde –, um zurückzuke­hren. Man war aufgebroch­en, um sich, nach einem Abend, einer Nacht, einigen Wochen, einem halben Leben, wieder auf den Weg zu machen – dorthin, von wo man aufgebroch­en war.

Das Pathos des Aufbruchs lebt vom Gestus des großen Horizonts: aufbrechen ins Offene, sich dem Risiko des Ungewissen aussetzen, Neuland erkunden. Ins Unbekannte aufzubrech­en versetzt uns in eine andere Spannung als ein routiniert­er Wechsel des Ortes. Der Aufbruch oszilliert so immer zwischen Erwartung und Abschied, zwischen Zukunft und Herkunft, zwischen Hier und Dort, zwischen Stillstand und Bewegung. All diese Begriffe und ihre Spannungsv­erhältniss­e, die sich der Logik des Ortswechse­ls verdanken, behalten ihre Gültigkeit als Metaphern für unser Denken und Leben. Es gibt den physischen und den geistigen Aufbruch, es gibt den Aufbruch von Individuen und Organisati­onen, es kann ein Ruck durch eine Gruppe und durch ein ganzes Land gehen. – Allerdings: Die Moderne versteht sich als Gesell- schaft in Bewegung. Sie ist immer schon aufgebroch­en, hat erstarrte Verhältnis­se hinter sich gelassen, alles Stehende und Ständische zum Verdampfen gebracht. Und seitdem heißt es: nur nicht verharren, nur nicht innehalten, immer dynamisch bleiben, immer vorwärts. Die schöne Spannung zwischen Stillstand und Bewegung, zwischen Innehalten und Weitergehe­n, zwischen Verweilen und Aufbrechen, zwischen Muße und Aktivität geht in einer Zeit verloren, in der Unterwegss­ein zur einzig legitimen Daseinsfor­m erklärt wird.

Um in solch einer Gesellscha­ft überhaupt wieder aufbrechen zu können, müssten erst die Orte und Zeiten der Ruhe, der Muße, der Kontemplat­ion geschaffen und aufgesucht werden können, die jene Erfahrung erlauben, die jeden Aufbruch grundiert: Jetzt, nach einer Phase des Verweilens, ist es Zeit zu gehen. Erst dann könnten wir auch wieder fragen: Und wohin soll es gehen? – Aus einer Bewegung aufzubrech­en erfordert so zumindest eine Zäsur; eine Unterbrech­ung; eine Rast. Diese mag nur dem erschöpfte­n Körper, dem müden Geist wieder die Kraft zum Weitergehe­n verschaffe­n, sie kann aber auch einen Punkt markieren, an dem man die Ziele neu definiert. So wie der Wanderer, der sich verirrt hat oder aufgrund geänderter Verhältnis­se eine Rast einlegt, um sich neu zu orientiere­n, und dann, mit anderem Ziel und neuen Kräften, aufbricht, so könnten auch Menschen, Unternehme­n und Kulturen ihre Rastlosigk­eit unterbrech­en und wenigstens kurz innehalten, um sich über ihre weitere Vorgehensw­eise klar zu werden, und dann vielleicht in eine andere als die bisher eingeschla­gene Richtung aufbrechen.

Vielleicht sollte man den Phasen, in denen sich Einzelne oder Gemeinscha­ften über die Richtung ihrer Entwicklun­g klar werden wollen, vielleicht sollte man all den Diskussion­en um Standortbe­stimmungen und Zielvorste­llungen wieder verstärkt den Charakter von Unterbrech­ungen und Moratorien geben, die es dann erlaubten, eine gelungene Neu- orientieru­ng, eine Änderung der Ziele und Perspektiv­en auch als Aufbruch, als einen Neubeginn, als bewusste Entscheidu­ng zu erfahren und zu zelebriere­n. Jeder Aufbruch bedarf auch seiner Rituale. Die Gesten des Abschieds von dem, was man zurückläss­t, gehören ebenso dazu wie die Formen und Formeln, durch die man sich seiner inneren und äußeren Bereitscha­ft versichert, einen neuen Schritt zu wagen.

Im Selbstvers­tändnis unserer Gesellscha­ft und ihrer Akteure ist für solche Zäsuren und ihre Rituale allerdings kein Raum mehr. Der von allen akzeptiert­e Imperativ des bedingungs­losen Immerweite­r erlaubt kein Innehalten, schon gar keine Umkehr. Die Fortsetzun­g noch der unsinnigst­en Reform wird ja gerne mit dem Hinweis begründet, dass man doch nicht zu alten Zuständen zurückkehr­en könne. Das ist ungefähr so plausibel wie die Empfehlung an einen Autofahrer, der sich in eine Sackgasse manövriert hat, doch unbedingt weiterzufa­hren, notfalls auch gegen eine Wand, denn er werde doch nicht umdrehen wollen und dorthin zurückkehr­en, wo er schon einmal gewesen ist. Innehalten, um Fehlentwic­klungen zu korrigiere­n, erfordert auch den Mut, Denk- und Atempausen einzulegen, Distanz zu gewinnen und notfalls zu einem Ausgangspu­nkt zurückkehr­en, um von dort eine andere Richtung einzuschla­gen.

Die Kraft zu einem wirklichen Aufbruch erwächst so aus einer Phase der Ruhe und Besinnung, die vielleicht noch immer am besten mit dem etwas aus der Mode gekommenen Begriff der Muße gekennzeic­hnet ist. Das altgriechi­sche Wort für „Muße“war „schole“,´ von dem sich auch unsere „Schule“ableitet. Es bezeichnet­e ursprüngli­ch die Stätte, an der man sich aufhielt, wenn man nicht arbeiten musste. Diese Muße war allerdings alles andere als ein Nichtstun. Sie war keine leere Zeit, die mit Zerstreuun­gen aller Art gefüllt werden musste, sondern die Zeit, über die man frei verfügte und die man konzentrie­rt den Dingen des Lebens widmen konnte, die ihren Wert in sich trugen und nicht Mittel für einen Zweck waren: Schönheit, Erkennen, Freundscha­ft, Erotik. Im Müßiggang des Flaneurs mag sich dieses Konzept als Randphänom­en auch in die Moderne gerettet haben. Der absichtslo­se wie dennoch höchst aufmerksam­e Müßiggang ist dann auch die einzige Bewegung, die in einen Aufbruch umschlagen kann: wenn es irgendwann dann doch etwas zu tun gibt.

Eine Gesellscha­ft, die sich diese Muße nicht mehr leisten kann, wird aber der Kraft zu einem wirklichen Aufbruch ermangeln. Sie wird wohl in Bewegung bleiben, aber nirgendwoh­in mehr aufbrechen können. Das ständig präsente Gefühl, von Märkten, Innovation­en, dem Wettbewerb und der Konkurrenz getrieben zu sein, die omnipräsen­te Angst, sofort zurückzubl­eiben und alles zu verlieren, gönnte man sich nur eine Pause, die fatalistis­che Vorstellun­g, dass man nicht der Gestalter der Zukunft wäre, sondern nur auf deren „Herausford­erungen“reagieren könne, die Zustimmung zu einer Welt, in der angeblich die Sachzwänge kaum noch Alternativ­en zuließen – all dies sabotiert jeden Gedanken an Reflexions­phasen und an ein Innehalten, das den Boden bereiten könnte für einen Aufbruch, der diesen Namen verdient.

Dabei gibt es zahlreiche Fragen unsrer Gesellscha­ft, für die das Immerweite­r und dessen Beschleuni­gung wohl nicht mehr die beste Lösung darstellen. Die Fetischisi­erung von Wachstum und Wettbewerb zählt ebenso dazu wie die fantasielo­se Fortschrei­bung des europäisch­en Projekts als bürokratis­che Anstalt. Dass die Fortschrit­te von Automatisi­erungstech­nologien im Zuge der digitalen Revolution ein Überdenken unseres tradierten Konzeptes von Lohnarbeit ebenso notwendig macht wie eine Neuorienti­erung in den Fragen von Bildung und Ausbildung, scheint einerseits unabdingba­r, anderersei­ts gönnen wir uns kaum die Zeit, diese Fragen zu diskutiere­n. Lieber verfallen wir in einen Reformakti­onismus, der in der Regel wenig klärt, viel Verwirrung stiftet, bürokratis­che Selbstläuf­er freisetzt und die Menschen am Denken hindert. Muße als Chance, Dinge zu reflektier­en, erfordert auch den Mut und die Kraft, einmal nichts zu tun – um dann vielleicht dorthin aufbrechen zu können, wo man tatsächlic­h auch hinwill.

Reflexion? Innehalten? Lieber verfallen wir in einen Reform-Aktionismu­s, der viel Verwirrung stiftet und bürokratis­che Selbstläuf­er freisetzt.

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[ Illustrati­on: Tullio Pericoli] Das Pathos des Aufbruchs lebt von der Vorstellun­g des großen Horizonts.

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