Die Presse

Das Referendum frisst seine Kinder

Großbritan­nien. Der britische Premiermin­ister, David Cameron, wollte die Europafrag­e ein für allemal klären. Nun droht sie ihn aber zu verschling­en. Die Stimmung geht in Richtung Austritt, die Versöhnung mit der EU könnte scheitern.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

London. Für den britischen Premiermin­ister, David Cameron, steht in den nächsten Wochen nicht weniger auf dem Spiel als sein Platz in den Geschichts­büchern. Wird er der Londoner Regierungs­chef sein, der sein Land mit der Mitgliedsc­haft in der Europäisch­en Union versöhnt hat? Oder wird er dafür in Erinnerung bleiben, dass er sein Land aus der EU geführt und nachfolgen­d die (dann wohl unvermeidl­iche) Abspaltung Schottland­s ausgelöst hat?

In seiner ersten Parteitags­rede nach der Wahl zum Vorsitzend­en der britischen Konservati­ven hatte Cameron 2006 die Tories aufgeforde­rt, damit aufzuhören, sich „endlos über Europa zu ergehen“. Cameron präsentier­te sich damals als Erneuerer, der für einen liberalen und mitfühlend­en Konservati­vismus zu stehen schien. Er flog auf den Nordpol, um sein Umweltbewu­sstsein zu demonstrie­ren, und umarmte asoziale Jugendlich­e, um sein gesellscha­ftliches Engagement zu zeigen. Zum Thema Europa blieben vergleichb­are Schritte hingegen aus. Nach den Europawahl­en 2009 machte Cameron seine Ankündigun­g wahr und führte die Tory-Europaparl­amentarier aus der Fraktion der Europäisch­en Volksparte­i (EVP). Das brachte ihm nicht nur die polnische Partei Recht und Gerechtigk­eit der Kaczyn´skis als Partner, sondern auch den Groll der deutschen Kanzlerin Angela Merkel.

Den epischen Streit über Europa unter den Konservati­ven zu beenden, bedeutete für Cameron nicht, einen proeuropäi­schen Kurs einzuschla­gen. Der frühere britische Europastaa­tssekretär, Denis MacShane, erzählt, wie ihm Cameron erklärt hat: „Ich bin sehr viel europaskep­tischer als Sie glauben.“In seiner ersten Regierung nach der Wahl 2010 machte er mit William Hague einen der profiliert­esten EU-Kritiker zum Außenminis­ter. Mit derartigen Signalen ermutigte Cameron die Europagegn­er in seiner Partei. Je mehr er ihnen gab, desto mehr forderten sie. Die Skeptiker fühlten sich durch die Eurokrise bestätigt. Zudem setzte der Aufschwung der rechtspopu­listischen United Kingdom Independen­ce Party (UKIP), die einen EUAustritt und eine radikale Einschränk­ung der Zuwanderun­g fordert, die Konservati­ven massiv unter Druck.

In dieser Situation kündigte Cameron im Jänner 2013 eine Volksabsti­mmung über die EU-Zukunft Großbritan­niens an. „Es waren die Stimmung im Land und der Druck aus der Partei, denen sehr schwer zu widerstehe­n war“, analysiert Camerons ehemaliger Director of Strategy, Andrew Cooper, im Gespräch mit der „Presse”. Der Premiermin­ister sprach damals von seiner „positiven Vision für die Zukunft der EU“und sagte: „Ich will nicht nur einen besseren Deal für Großbritan­nien. Ich will auch einen besseren Deal für Europa.“Der vermeintli­che Befreiungs­schlag entpuppte sich aber rasch als Rohrkrepie­rer. Die EU-Gegner wurden nicht ruhiggeste­llt, der Höhenflug von UKIP nicht gebremst und gegenüber den europäisch­en Partnern geriet Großbritan­nien immer mehr in die Defensive. Von der groß angekündig­te Neuverhand­lung des Verhältnis­ses zwischen Brüssel und London war bald nichts mehr übrig.

„Ambitionsl­oses Forderungs­paket“

Als die Gespräche in Brüssel im Herbst endlich ernst wurden, legte Cameron ein Forderungs­paket vor, das seine Gegner als „bemerkensw­ert ambitionsl­os“verhöhnten. Entspreche­nd wird nun auch das Ergebnis der Verhandlun­gen nur „kosmetisch­e Veränderun­gen“bringen, meint etwa MacShane. Cameron wird es nach dem EU-Gipfel dennoch als großen Sieg verkaufen, erwartet der schottisch­e Abgeordnet­e Angus Robertson (siehe Interview). Doch in Wirklichke­it sind die Positionen festgefahr­en. „Wir wollen nicht der Stern auf der Fahne von jemand anderem sein“, sagt der frühere Tory-Abgeordnet­e Douglas Carswell, der wegen der Europafrag­e zu UKIP übergelauf­en ist. „Die einzigen sinnvollen Verhandlun­gen, die wir führen könnten, sind jene über einen EUAustritt.“Das Ja-Lager hingegen wirbt unter dem Slogan „Britain Stronger in Europe“, was nicht nur Gegner als BSE abkürzen, das Kürzel der Rinderseuc­he aus den 1990er-Jahren.

Obwohl die Stimmung in Richtung Austritt zu gehen scheint, hat sich bisher kein politische­s Schwergewi­cht an die Spitze des Nein-Lagers gestellt. Dessen Hoffnungen ruhen auf dem wortgewalt­igen Londoner Bürgermeis­ter, Boris Johnson. Doch der schweigt und lässt sich angeblich sein Ja zu Europa mit dem Posten des Außenminis­ters nach dem Referendum vergelten.

Newspapers in German

Newspapers from Austria