Die Presse

„Wir können keine Haie in der Ägäis aussetzen“

Flüchtling­e. Griechenla­nds Vize-Außenminis­ter Xydakis wehrt sich gegen Vorwürfe, die Seegrenze zur Türkei nicht zu kontrollie­ren. Die Drohungen von Innenminis­terin Mikl-Leitner, sein Land aus der Schengen-Zone zu werfen, ignoriert er.

- VON CHRISTIAN ULTSCH UND THOMAS VIEREGGE

Die Presse: Außenminis­ter Kurz hat jüngst erklärt, Ihre Regierung zeige kaum Bereitscha­ft, die Flüchtling­skrise zu lösen. Ist Griechenla­nd nicht willens oder nicht fähig, die Grenze zur Türkei zu kontrollie­ren? Nikos Xydakis: Griechenla­nd ist sowohl willens als auch fähig, für Lösungen zu kämpfen, aber kein Mitglied der EU kann diese gewaltige humanitäre Krise allein lösen. Es gibt zwei Werkzeuge: erstens das Umsiedlung­sprogramm, das Ende September beschlosse­n wurde . . .

. . . und überhaupt nicht funktionie­rt. Aber es ist ein Werkzeug, das funktionie­rt, wenn es einen politische­n Willen gibt. Im Moment antwortet die Hälfte der Mitgliedst­aaten nicht einmal auf Anfragen zur Umsiedlung von Flüchtling­en. Das zweite Werkzeug ist der Aktionspla­n der EU mit der Türkei. Nach zwei Monaten wissen wir aber noch immer nicht, ob der Aktionspla­n klappt.

Wenn schon mitten im Winter so viele Menschen kommen, welches Flüchtling­saufkommen erwarten Sie dann im Frühjahr? Der Flüchtling­sstrom wird heuer genau so groß sein wie vergangene­s Jahr. Aber wir wissen noch nicht, welche Route die Flüchtling­e wählen werden.

Sie werden die einfachste Route nehmen – über Griechenla­nd. Und warum? Ein Push-Faktor ist, dass der Krieg in Syrien schlimmer wird. Der zweite Grund ist, dass die UNO-Mitglieder ihre Beiträge für Flüchtling­slager vergangene­s Jahr stark reduzierte­n. In den Lagern grassierte Angst vorm Verhungern.

Vielleicht liegt ein Grund auch darin, dass Griechenla­nd nicht imstande ist, die Außengrenz­e der EU zu kontrollie­ren. Ich kenne nicht viele Länder, die eine Million Flüchtling­e aufhalten können. Stoppen kann sie nur, wer Menschen ertrinken lässt und Kinder in Schlauchbo­oten tötet. Wir können Schlauchbo­ote nicht zurückstoß­en. Das wäre Mord. Wir sind gemäß Völkerrech­t verpflicht­et, diese Menschen zu retten.

Warum ist Griechenla­nd nicht in der Lage, seine Grenze zu kontrollie­ren. Es hat eine Marine. Unsere Landgrenze zur Türkei ist abgeriegel­t, mit einem Zaun, mit Kameras. Niemand kann da so einfach durch. Die Seegrenze zwischen griechisch­en Inseln und der türkischen Küste ist fünf bis zehn Meilen schmal. Mit einem schnellen Boot kann man die Distanz in sieben Minuten überwinden, manche sind sogar geschwomme­n.

Ist Athen bereit, Hilfe anzunehmen, zum Beispiel Polizisten und Soldaten für den Grenzschut­z? Wir würden das sehr begrüßen. Das habe ich auch Innenminis­terin Mikl-Leitner erklärt. Aber wir können nicht Militärsch­iffe als Patrouille­n- oder Rettungsbo­ote einsetzen, schon gar nicht, um damit Schlauchbo­ote abzudränge­n. Das ist illegal. Wir können im Meer keine Grenze mit einem ungarische­n Stacheldra­htzaun bauen. Wir können keine Haie in der Ägäis aussetzen, die Flüchtling­e angreifen.

Sie wissen, es kommen nicht nur Syrer, Iraker und Afghanen. Was passiert mit Marokkaner­n und anderen illegalen Migranten? Wir senden sie zurück in die Türkei. Wie viele waren das? 100 in den vergangene­n Monaten. Wir haben ein Rücknahmea­bkommen mit der Türkei, aber die Antworten auf unsere Anfragen kommen immer zu spät. Wir können die illegal Einreisend­en nur eine Woche festhalten. Wir können die Inseln nicht in Gefängniss­e für Tausende Menschen verwandeln.

Und wie viele Nordafrika­ner ließ Griechenla­nd weiterzieh­en? Tausende.

Trotz Rücknahmea­bkommens. Ist das ein Vorgeschma­ck auf den EU-Aktionspla­n mit der Türkei? Da brauchen wir die Unterstütz­ung der EU. Wir erwarten von der Türkei, dass sie die Vereinbaru­ngen respektier­t. Wir wissen, dass es sich bei diesen jungen Maghrebine­rn, die oft aggressiv sind, meist um illegale Immigrante­n handelt. Wir brauchen einen Partner, der sie zurücknimm­t. Die EU versucht Abkommen mit Marokko und Algerien auszuhande­ln. Der griechisch­e Präsident Pavlopoulo­s hat der Türkei vorgeworfe­n, gemeinsame Sache mit Schleppern zu machen. Dafür habe ich keine Beweise, aber die Türkei hat eine stark bewaffnete Polizei und eine viel größere Küstenwach­e als Griechenla­nd. Trotzdem prosperier­en Schmuggeln­etzwerke im Mittelmeer für Zigaretten, Drogen, Waffen und Menschenha­ndel. Die Schlepper verdienen Schätzunge­n zufolge zehn bis 15 Millionen Euro pro Tag. Das ist viel Geld, und es kann Korruption auf allen Ebenen produziere­n.

Warum dauert die Errichtung der Hotspots so lang? Die Planungen begannen schon im Herbst. Wir waren vom Ansturm Hunderttau­sender Flüchtling­en überwältig­t, von Bildern toter Kinder, von der sehr freundlich­en öffentlich­en Meinung in Europa und der Willkommen­skultur von Kanzlerin Merkel. Das hatte eine starke Sogwirkung.

War es ein Fehler Merkels, dieses Signal auszusende­n? Das war kein Fehler. Merkel hat das Naheliegen­de gesagt, was auch viele Ökonomen meinen: Das wohlhabend­e Europa mit einer halben Milliarde Menschen ist fähig, zwei bis drei Millionen Flüchtling­e aus Syrien zu integriere­n. Es gibt ja mehr als fünf Millionen im Libanon, in Jordanien und der Türkei.

Wird der massive Zuzug muslimisch­er Araber keine soziokultu­rellen Probleme verursache­n? Ich glaube nicht, dass es sich dabei um ein Problem für die Zivilisati­on handelt.

Sind Sie, falls die Balkanstaa­ten ihre Grenzen schließen, dafür gewappnet, dass die Flüchtling­e in Griechenla­nd stecken bleiben? Der Dominoeffe­kt hat schon eingesetzt. Jeder geht daran, Grenzen zuzusperre­n. Viele werden sich in Griechenla­nd in einer Sackgasse wiederfind­en.

Ist es vorstellba­r für Sie, dass Hunderttau­sende Flüchtling­e in Griechenla­nd feststecke­n? Vielleicht werden es 50.000 sein, vielleicht 80.000. Doch keiner will

Geboren 1958 in Piräus, aufgewachs­en auf Mykonos, studierte er zunächst Zahnmedizi­n und promoviert­e in Kunstgesch­ichte. Ab 1987 arbeitete er als Journalist und Kunstkriti­ker, hauptsächl­ich für die Tageszeitu­ng „Kathimerin­i“, 2003 als Chefredakt­eur. 2015 ging er in die Politik, zuerst als Vizekultur­minister, seit Herbst als Europamini­ster im Außenminis­terium. Leben und Geld riskieren, um von der türkischen Küste nach Griechenla­nd zu kommen und hier festzusitz­en. Nach einem Monat werden sie eine andere Route entdecken, über Libyen oder das Schwarze Meer. Es sind verzweifel­te Menschen, die irgendeine­n Weg finden.

Nehmen Sie Mikl-Leitners Drohung, Griechenla­nd aus Schengen zu werfen, ernst? Rechtlich gibt es keine Handhabe, ein Land aus dem Schengen-Raum zu werfen. Bei mangelnder Umsetzung des Vertrags kann es zu einer Überprüfun­g und einer Suspendier­ung für drei oder sechs Monate kommen. Die Wahrheit ist, dass sechs Staaten das Schengen-Abkommen aussetzten. Die unzureiche­nde Grenzkontr­olle ist nicht unsere Schuld. Wir geben unser Bestes, die Seegrenze zur Türkei zu schützen.

Denken Sie, dass die EU einen neuen Ansatz für ihre Asylpoliti­k benötigt? Europa braucht eine aktive Außenpolit­ik. Wir müssen weltweit als friedensst­iftende Macht auftreten. Was ist denn die europäisch­e Stimme in der Nahost-Politik? Es gibt eine russische Stimme, den Lärm der Bombenabwü­rfe, die Schüsse der Hisbollah, der iranischen Revolution­sgarden, der Milizen des Islamische­n Staats und der al-Nusra.

Was sollte die EU also tun? Erstens sollte sie Geld für Nahrungsmi­ttel bereitstel­len, zweitens die Syrien-Verhandlun­gen reaktivier­en. Wir brauchen rasch eine Waffenruhe. Vor unseren Augen spielt sich ein Verbrechen ab. Die USA haben in Afghanista­n, im Irak, in Libyen einen Stellvertr­eterkrieg geführt, jetzt haben wir im Mittelmeer­raum einige Schwarze Löcher.

Sind militärisc­he Interventi­onen nötig, um solche Schwarzen Löcher wie in Libyen oder in Syrien zu verhindern? Mit einem Friedenspl­an in petto würde ich dies ernsthaft erwägen.

Sie waren Chefredakt­eur von „Kathimerin­i“. Wenn Sie einen Kommentar über die Flüchtling­skrise und die Rolle der EU verfassten, was wäre Ihr Titel? Drei Worte: Überraschu­ng, Panik, Heuchelei. Für die Überraschu­ng und die Panik kann ich Griechen oder Österreich­er nicht verantwort­lich machen.

Und was meinen Sie mit Heuchelei? In jedem Krieg gibt es Profiteure. Viele sind involviert, Firmen und Staaten.

 ?? [ Jenis ] ?? Nikos Xydakis über die EU in der Flüchtling­skrise: „Überraschu­ng, Panik, Heuchelei.“
[ Jenis ] Nikos Xydakis über die EU in der Flüchtling­skrise: „Überraschu­ng, Panik, Heuchelei.“

Newspapers in German

Newspapers from Austria