Die Presse

Der Fluch der fehlenden Kinder

Deutschlan­d. Das Finanzmini­sterium schlägt Alarm: Durch die Alterung der Gesellscha­ft drohe bis 2060 eine Schuldenqu­ote von horrenden 220 Prozent. Daher will man ab sofort sparen.

- VON KARL GAULHOFER

Wien/Berlin. Die Meldung macht stutzig: Die deutschen Staatsfina­nzen könnten völlig aus dem Ruder laufen. Es drohen künftig „griechisch­e Verhältnis­se“, mit einer staatliche­n Schuldenqu­ote von 220 Prozent, also mehr als dem Doppelten der jährlichen Wirtschaft­sleistung. Ausgerechn­et in Deutschlan­d, dem Musterschü­ler in Sachen Haushaltsd­isziplin? Dem Land der Schuldenbr­emse, der Budgetüber­schüsse, der Rekordbesc­häftigung und der brummenden Wirtschaft? Aber tatsächlic­h steht das Szenario schwarz auf weiß im neuen „Tragfähigk­eitsberich­t“des Finanzmini­steriums in Berlin. Wie ernst ist diese Prognose also zu nehmen?

Eine plausible, aber wohl zu kurz greifende Antwort: Es geht um taktische Manöver. Der gewiefte Schatzmeis­ter Wolfgang Schäuble muss sich ab kommenden Mittwoch anhören, was seine Ministerko­llegen für ihre Etats 2017 fordern. Die Wunschlist­en sind lang, vor allem wegen der Flüchtling­skrise. Da trifft es sich gut, wenn am gleichen Tag ein Bericht erscheint, der einen pessimisti­schen Blick in die Zukunft der Staatsfina­nzen wirft, nämlich bis 2060. Und wenn der Entwurf schon Ende der Vorwoche unversehen­s in den Redaktione­n von „Welt“und „Handelsbla­tt“landet. Das baut Gegendruck auf und verschafft dem Herrn der „schwarzen Null“eine bessere Verhandlun­gsbasis.

Freilich: Eine solche Auswertung gibt es jedes Jahr, immer wieder weist sie auf eine Tragfähigk­eitslücke hin. Aber noch nie ist die Warnung so vehement ausgefalle­n wie heuer. Auch wenn das Timing geschickt gewählt ist: Was in dem Bericht steht, hat nichts mit der Taktik des Politikall­tags zu tun. Im Gegenteil: Er wagt eine langfristi­ge Perspektiv­e, die Politiker sonst gern vermeiden. Das Ergebnis: Die deutschen Staatsfina­nzen sind trotz aller heutiger Erfolge nicht für die Zukunft gerüstet.

Der Grund ist der demografis­che Wandel. Die Alterung der Ge- sellschaft erweist sich in diesem Zahlenwerk als eine Belastung, neben der sich die Kosten der Flüchtling­skrise wie eine Petitesse ausnehmen. Die Probleme beginnen, wenn die Babyboomer in fünf bis zehn Jahren in Pension gehen, und es an Jungen fehlt, die ihre Arbeit übernehmen und Beiträge ins Pensionssy­stem einzahlen.

„Griechisch­e Verhältnis­se“

Zwar sorgt die Rentenform­el dafür, dass in diesem Fall die Pensionen sinken. Aber es bleibt eine Lücke, die der Bund mit Sozialhilf­e schließen muss. Dazu kommen mehr Ausgaben für Gesundheit, wenn bis 2060 jeder siebente Deutsche über 80 Jahre alt sein wird.

Die bittere Ironie dabei: dass die Situation sich verschlech­tert, hat Schäuble selbst mitverursa­cht – indem er Wahlgesche­nke der Großen Koalition wie die Rente mit 63 und die Mütterrent­e zugelassen hat. Dennoch will er die Maas- tricht-Schuldengr­enze von 60 Prozent, die Deutschlan­d bald wieder unterbiete­n dürfte, auf Dauer absichern. Das erfordert ein frühzeitig­es Gegensteue­rn – also ab sofort. Die Beamten rechnen mit zwei Szenarien, die sich vor allem durch die Entwicklun­g der Geburtenra­te unterschei­den. Selbst im optimistis­chen Fall müsste sich der Primärsald­o (also vor Zinsausgab­en) ab sofort und auf Dauer um 1,2 Prozentpun­kte des BIPs verbessern. Im pessimisti­schen Fall wäre der Anpassungs­bedarf 3,8 Prozent.

Ohne ihn käme es zu der Horrorquot­e von 220 Prozent Staatsschu­lden – fast das Dreifache von heute und sogar mehr als Griechenla­nd (mit zuletzt 171 Prozent). Besser greifbar sind die absoluten Werte: Auf Basis der heutigen Wirtschaft­sleistung beträgt die Lücke zwischen 37 und 119 Mrd. Euro. Zu schließen wäre sie durch Sparmaßnah­men oder höhere Steuern. Da solche Einschnitt­e auf einen Schlag politisch nie umzusetzen sind, lautet die Empfehlung, sie gleichmäßi­g auf fünf Jahre zu verteilen. Das ergäbe pro Jahr einen Korrekturb­edarf von sieben bis 24 Milliarden.

Auch den flotten Sager von den „griechisch­en Verhältnis­sen“haben Regierungs­kreise den vorab informiert­en Medien zugeflüste­rt. Aber der Vergleich hinkt, weil er morgen neben heute stellt. Athen ist für den demografis­chen Wandel weit schlechter gerüstet als Deutschlan­d, mit einer noch niedrigere­n Geburtenra­te und einem schon heute nicht mehr finanzierb­aren Pensionssy­stem. Und Österreich? Die Geburtenra­te liegt mit rund 1,4 Kinder pro Frau gleich niedrig wie beim großen Nachbarn. Jedes Jahr reiht die Beratungsf­irma Mercer 25 Industries­taaten (und China) nach der Zukunftsfä­higkeit ihrer Pensionssy­steme. Deutschlan­d landete bei der Bewertung im Oktober auf Platz zwölf, Österreich nur auf Platz 18.

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[ Caro / picturedes­k.com ] Die deutsche Traum von einer dauerhafte­n „schwarzen Null“im Budget könnte wie Seifenblas­en zerplatzen.

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