Die Presse

Sag mir, wo die Kinder sind. Wo sind sie geblieben?

Über 10.000 minderjähr­ige Flüchtling­e sind unter den Augen der Behörden in Europa verschwund­en. Eine Medienoffe­nsive offenbart ihre Hilflosigk­eit.

- E-Mails an: debatte@diepresse.com

Aus dem Lager Traiskirch­en sind im Sommer 2015 Hunderte minderjähr­ige Flüchtling­e verschwund­en. Man hat nie mehr etwas über ihren Verbleib erfahren. In Italien sind 5000, in Schweden mindestens 1000, in Deutschlan­d knapp 5000 spurlos verschwund­en. Das hat in den vergangene­n Tagen die Polizeibeh­örde Europol zu einer Medienoffe­nsive veranlasst und vor zwei Tagen den Leiter der EU-Grundrecht­sagentur, Michael O’Flaherty, in einem „Presse“Interview auf den Plan gerufen.

Ist das nicht eine Schande Europas? Wie kann es sein, dass auf einem hoch entwickelt­en Kontinent mit all den Hightech-Registrier­ungsmöglic­hkeiten Zehntausen­de Kinder und Minderjähr­ige einfach verschwind­en? Wie kann es sein, dass Europol und anderen Behörden offenbar seit eineinhalb Jahren eine „kriminelle Infrastruk­tur“bekannt ist, die mit der Flüchtling­skrise – und da vor allem mit den Schwächste­n – ihr Milliarden­geschäft betreibt?

Es ist ja nicht so, dass dieser „Geschäftsz­weig“erst jetzt aufgeblüht ist; dass seine Methoden neu oder unbekannt wären; dass seine rasante Expansion – Menschenha­ndel kommt in der geldwerten Dimension nach dem Drogengesc­häft bereits vor dem illegalen Waffenhand­el – zu übersehen war; dass es sich also um ein völlig neues Phänomen handelt.

Für die Frage, wie das denn sein könne, gibt es vor dem Hintergrun­d der Geschäftsa­usweitung des Menschenha­ndels in den vergangene­n Jahren ziemlich einfache, wenn auch erschrecke­nde Antworten:

1. Gleichgült­igkeit der Institutio­nen: Über 70 Prozent aller Opfer von Menschenha­ndel sind Frauen und Kinder, also eben „nur“. So kann es sein, dass zuerst einmal „mangelnde Zusammenar­beit“der Behörden beklagt und unverbindl­ich von besorgnise­rregenden Begleiters­cheinungen der Flüchtling­skrise gesprochen wird. So kann es auch sein, dass die für den Kampf gegen Menschenha­ndel zuständige und in Wien ansässige UN-Organisati­on UNODC das Problem überhaupt ignoriert und erst vor drei Ta- gen gefunden hat, das Verschwind­en von 10.000 Migrantenk­indern sei eigentlich nicht akzeptabel. Unakzeptab­el, echt? Internatio­nale Maßnahmen dringend erforderli­ch? Wirklich? Mehr Zusammenar­beit? Nicht doch!

Die – um es milde auszudrück­en – etwas verzögerte Reaktion der UN-Teilorgani­sation sollte aber nicht überrasche­n. Menschenha­ndel stand seit einem Führungswe­chsel zu Russlands Jurij Fedotow nicht wirklich in ihrem Fokus, was weiter auch nicht verwundert, weil Russland doch nichts vom Thema Menschenha­ndel innerhalb seiner Grenzen wissen will. Da kann man dann wachsende Probleme schon leicht übersehen. Oder sich, wie jetzt, in Floskeln flüchten.

2. Hilflosigk­eit angesichts der Zahlen: So kann es sein, dass es zu Vollzugspr­oblemen kommt, Kinder und Jugendlich­e zwar registrier­t werden, danach aber die „Obsorge“vollkommen versagt und sich niemand mehr um ihren Verbleib kümmert. Lücke im Kinderschu­tz heißt das dann auf Bürokraten-Deutsch.

Das ist dann die Stunde des organisier­ten Verbrechen­s. Die Methoden sind immer die gleichen – ob vor den Toren ukrainisch­er Waisenhäus­er oder auf den Straßen amerikanis­cher Großstädte: Verspreche­n für ein besseres Leben locken verzweifel­te Junge in eine neue „Obhut“, die dann in der Pädophilen-Szene oder in Sklaverei enden kann.

3. Uninformie­rtheit: So kann es sein, dass weder Polizisten noch Öffentlich­keit Kinderhand­el erkennen, wenn er unter ihren Augen stattfinde­t. Jetzt plötzlich sollen die einen geschult und die andere sensibilis­iert werden. Und dann was?

Man wisse „weder, wo sie (die verschwund­enen Kinder, Anm.) sind, noch was sie machen, noch mit wem“, heißt es jetzt. Wie das sein kann? Es fehlt – wie beim Menschenha­ndel generell – der politische Wille. Die Händler sind den Behörden immer einen Schritt voraus. Wenn das keine Schande ist. Hoch entwickelt hin oder her!

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VON ANNELIESE ROHRER

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