Die Presse

Der Mythos von Weihnachts-Suiziden

Die meisten Suizide werden in Österreich laut einer aktuellen Untersuchu­ng nicht über die Weihnachts­feiertage begangen, sondern Anfang Jänner. Sonst bleibt die Rate konstant.

- VON KÖKSAL BALTACI

Dass die Zahl der Suizide über die Weihnachts­feiertage steigt, gehört zu den hartnäckig­sten Mythen in der Bevölkerun­g. Die Medien tragen dazu bei, indem sie mindestens einmal im Jahr – zumeist Ende November oder Anfang Dezember – von diesem angebliche­n Phänomen berichten.

Als Gründe dafür werden beispielsw­eise die Widersprüc­he zwischen dem Idealbild der heilen Familie und auftretend­en Problemen genannt, die besonders zu Weihnachte­n auftreten würden. Zudem begünstige die kalte und dunkle Winterzeit ohnehin schon vorhandene Rückzugs- und Isolierung­stendenzen von Menschen mit Depression­en und anderen psychische­n Krankheite­n.

Klingt alles ziemlich logisch und nachvollzi­ehbar. Stimmt aber nicht. Zumindest, was die erhöhte Suizidrate über die Weihnachts­feiertage angeht. Denn aus einer ak- tuellen Studie von Salzburger Forschern geht hervor, dass gerade in diesen Tagen die Zahl der Suizide deutlich sinkt. Und erst Anfang Jänner steigt, um dann wieder einen durchschni­ttlichen Wert anzunehmen (siehe Grafik oben).

Nur zwei Abweichung­en

„Wir konnten zum ersten Mal in Österreich nachweisen, dass die wenigsten Suizide über Weihnachte­n begangen werden“, sagt der Internist David Niederseer. Er ist einer der Autoren des Papers, das er gemeinsam mit dem Psychologe­n und Psychother­apeuten Martin Plöderl von Suizidpräv­ention Salzburg als Erstautor in dem renommiert­en Magazin „European Journal of Public Health“veröffentl­icht hat.

„Anfang Jänner gibt es einen Anstieg, sonst bleibt die Zahl der Menschen, die sich das Leben nehmen, über das Jahr gesehen relativ konstant“, erläutert Niederseer. „Selbst während anderer Feiertage oder religiösen Festen wie etwa Ostern, diese Komponente scheint also keine oder nur eine geringe Rolle zu spielen.“

Für die Studie der Suizidpräv­ention Salzburg und des Krankenhau­ses Oberndorf haben die Forscher die Daten der Statistik Austria über einen Zeitraum von 13 Jahren (2000 bis 2013) ausgewerte­t. Eine Erklärung für die sinkende Rate über die Weihnachts­feiertage haben sie nicht, sondern lediglich Hypothesen. „Ein Grund könnte sein, dass suizidgefä­hrdete Menschen zu Weihnachte­n durch Fa- milien- und Firmenfeie­rn abgelenkt werden und Anerkennun­g finden“, sagt Niederseer. „Dass sie also durch die vergleichs­weise intensiver­e soziale Interaktio­n in diesen Tagen auf andere Gedanken kommen.“

Dass Anfang Jänner wieder etwas mehr Suizide dokumentie­rt werden, könnte seiner Meinung nach den „broken promise effect“als Ursache haben. Demnach ist man nach einem großen Ereignis, in das man sehr viel Hoffnung gesetzt hatte, aber enttäuscht wurde, derart niedergesc­hlagen, dass man einen Suizid begeht.

1313 Suizide in Österreich

In Österreich gab es 2014 laut den Daten der Statistik Austria insgesamt 1313 Todesfälle durch Suizid. Die meisten davon wurden in Niederöste­rreich (275), Wien (237) und der Steiermark (220) begangen – gefolgt von Oberösterr­eich (191), Tirol (108), Kärnten (104), Salzburg (98), Vorarlberg (45) und dem Burgenland (35).

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