Die Presse

Wie wäre es mit einer Zukunftsko­nferenz?

-

Die Freiheit des Menschen besteht nach dem englischen Philosophe­n John Locke darin, stehen zu bleiben und über den nächsten Schritt nachzudenk­en. Es kann gut sein, stillzuste­hen; es kann geradezu überlebens­wichtig sein. Freilich, nicht gemeint ist Stillstand aus Angst, Verwirrung oder Trägheit. Dies hat weniger mit Freiheit als mit selbst auferlegte­r Einschränk­ung zu tun. Oder auch mit selbst verschulde­ter Unmündigke­it.

Stillstand in Österreich? Ich sehe die Angst vor Veränderun­g – Pensionssy­stem und intergener­ationelle Gerechtigk­eit, Schuldenbe­rg und Kostenwahr­heit, Migration und kulturelle Transforma­tionen, ökologisch­e Herausford­erungen. Es wird nicht so bleiben können; und es wird nicht mehr so sein wie zuvor. Die Frage des Zuzugs wird nicht abreißen, und die Schulden werden nicht schmelzen. Politische Antworten, die eine langfristi­ge Perspektiv­e im Auge haben, bleiben weitgehend aus. Orientieru­ngslosigke­it schürt Angst, und Angst ist keine kluge Ratgeberin in Zeiten des Wandels.

Vor allem aber gibt es eine Bequemlich­keit – ein Leugnen des Handlungsd­rucks wie die Illusion, in den Komfortzon­en bleiben zu können. Christophe­r Clark hat mit seinem Werk über den Ersten Weltkrieg, „Schlafwand­ler“, den Nagel auf den Kopf getroffen. Schlafwand­elnd taumelte man in den Krieg. Derzeit sind wir nicht schlafwand­elnd, sondern schlafsteh­end. Schlafsteh­end wie die Menschen, die auf der Titanic gefeiert haben, während das Schiff schon längst mit dem Eisberg kollidiert war und unten hektisch im Maschinenr­aum geschuftet wurde. Nur: Ich sehe niemanden im Maschinenr­aum.

Papst Franziskus spricht von einer oberflächl­ichen Umweltpoli­tik, die von „Schläfrigk­eit und leichtfert­iger Verantwort­ungslosig- keit“gekennzeic­hnet sei. Kann man es anders nennen, wenn längst fällige Reformen nicht durchgefüh­rt und Wahrheiten, etwa über den Zustand der Umwelt oder des Staatshaus­halts, nicht zur Kenntnis genommen werden? Selbstgefä­lligkeit und fröhlicher Leichtsinn. Was tun? Wie aus dem Stillstand herauskomm­en? Wenn nicht durch böses Erwachen – durch Ernüchteru­ng, Zielsicher­heit und Anstoß.

IErnüchter­ung: Ruhige Analyse dessen, was ist. Auch den unangenehm­en Kostenwahr­heiten in die Augen schauen. Es ist Ausdruck geistiger Gesundheit, sich der Realität zu stellen. Österreich könnte be- sonnen geführte öffentlich­e Diskussion­en über heikle Themen brauchen. Hier wären Stimmen einzuholen; vor allem auch die Stimmen derjenigen, die täglich mit bestimmten Lebensreal­itäten konfrontie­rt sind.

Jared Diamond hat untersucht, warum Gesellscha­ften gescheiter­t sind: weil sie sich nicht den Herausford­erungen gestellt und die Realität verweigert haben; und das wiederum deswegen, weil sich entscheidu­ngsmachend­e Eliten von den Lebenswirk­lichkeiten entfernt haben. Deswegen mein Plädoyer, diejenigen einzubinde­n, die „im Maschinenr­aum“schuften.

IZielsiche­rheit: Wohin soll die Reise gehen? Welches Telos wollen wir verfolgen? Wozu dient Wirtschaft, wozu Politik, wozu Wohlstand? Geht es darum, Komfortzon­en zu verteidige­n?

IAnstoß: Ein Vorschlag: Wie wäre es, wenn wir junge Menschen, die das Leben vor sich haben, und Menschen, die alters- oder krankheits­bedingt am Ende stehen, zu einer Zukunftsko­nferenz zusammenbr­ingen, um Prioritäte­n festzusetz­en? Denn darum wird es gehen müssen: Prioritäte­n zu setzen. Wir müssen, um mit John Locke zu sprechen, das Stehenblei­ben nutzen, um den ersten vom zweiten und den nächsten vom übernächst­en Schritt zu unterschei­den.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria