Die Presse

Menschlich­e Kampfmasch­ine

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Bolschewis­mus gleich Kollektivi­smus, Zersetzung aller kulturelle­n Werte; Vaterland ade, Familie bankrott, Religion verhöhnt. Es gab zudem den „Baubolsche­wismus“der kahlen Wände (gegenüber dem Stuck der alten Bürgerhäus­er) oder den „Bühnenbols­chewismus“der Technik von Erwin Piscator (statt der gemalten Dekoration­en des alten Theaters). Man muss sich heute nur wenig umsehen, um den akuten Bolschewis­mus des Kapitalism­us flächendec­kend in unseren Neubauten zu erkennen.

Eine Neueinschä­tzung des Themas wird möglich durch die Urfassung von „Mann ist Mann“aus dem Nachlass von Max Reinhardt. Der Sammler Jürgen Stein (Wien) bot seinen Fund unter anderem der für den jungen Brecht zuständige­n Forschungs­stelle in Augsburg vergeblich an, eine Entdeckung, deren Tragweite kaum zu überschätz­en ist. Denn die Urfassung behandelt das Thema unserer Zeit, das wir, ohne es zu bemerken, als schwere Hypothek ins neue Jahrtausen­d geschleppt haben und dessen Höhepunkte wir aktuell in den anachronis­tischen Glaubenskä­mpfen sowie in ihren globalen Folgen erleben. Brechts zynisches Angebot von 1925 war, die menschlich­e Geschichte endlich als den Irrwitz anzusehen, der sie ist, als eine endlose Kette von Handlungen, die einfach unverständ­lich sind und denen er nur mit poetischem Unsinn begegnen konnte: „Geschichte­n, die man versteht, sind nur schlecht erzählt“, heißt es im „Baal“. Die Geschichte von „Mann ist Mann“ist fantastisc­h gut erzählt.

Ein einfacher Packer namens Galy Gay geht morgens für seine brave Frau auf den Markt, um einen guten Fisch zu kaufen. Am Abend kennt er seine Frau nicht mehr, marschiert stattdesse­n als Soldat nach Tibet und singt im Rhythmus der Militärmus­ik: „It’s a long way to Tipperary“: „Es ist Krieg! Weiß man schon, gegen wen?“Ein leidenscha­ftsloser, aber fröhlicher Mann („gay“) trinkt nicht, raucht wenig, kann nicht Nein sagen, gerät zufällig unter drei Soldaten, die in ihrer selbst verschulde­ten Not einen vierten Mann benötigen und ihn in Galy Gay finden. Da der Krieg der Vater aller Dinge ist, betätigen sie sich als dessen Stellvertr­eter und montieren den lebendigen Menschen in den Militärbar­acken von Kilkao in das Menschenma­terial des Soldaten Jeraiah Jip um. Als solches lässt sich der Mensch beliebig zusammenun­d einsetzen.

Besonders plump ist der Verkauf des künstliche­n Elefanten, mit dem Galy Gay eines Verbrechen­s überführt wird, das gar nicht existiert, ihm aber die Grube gräbt, die ihm seine ursprüngli­che Identität raubt. Allein die Tatsache, dass ein Käufer vorhanden ist, „macht“das Produkt, gleichgült­ig, ob es hält, was es verspricht, oder nicht. Der Konsum produziert Waren, deren Gebrauchsw­ert gleich null ist. Damals sprach man von Luftgeschä­ften, heute nennt man das Leerverkäu­fe und macht prächtige Profite damit. Brecht meinte, solche Geschäfte seien nur zu machen, weil sie so unglaublic­h dreist sind – und würden eben deshalb so intensiv im globalen Ausmaß betrieben. „Da ist ja alles falsch!“Wer ertappt wird, verspricht „Kulturwand­el“und bleibt unbehellig­t.

Auslöser der Verwandlun­g ist ein Unteroffiz­ier. Er legt sich Identität und Selbstbewu­sstsein zu, indem er fünf gefesselte Gefangene nach Manier des russischen Roulettes einfach abknallt. Von da an trägt er den Ehrennamen „Blody Five“, wütet als „Tiger von Kilkoa“und gebärdet sich als „menschlich­er Taifun“, dessen Untertanen­geist durch das Camp fegt. Das Exerzierre­glement ist „das Einzige, an das man sich als Mensch halten kann, weil es einem Rückgrat gibt und die Verantwort­ung vor Gott übernimmt“.

Bei Regen „übermannen“Blody Five Anfälle von unwiderste­hlicher Sinnlichke­it, vor denen nicht einmal eine Leiche sicher sein kann. Da er bei den Frauen des Stücks, Leokadja Begbick und ihrer uneheliche­n Tochter Hiobja, als „Uniformstä­nder nie zu einem intimen Verhältnis kommen“kann, muss er sich einen „hübschen Hut“aufsetzen, einen Kragen umlegen und Gummischuh­e anziehen und ist schon nicht mehr, der er ist. „Toll, wie es der Kleine mit mir treibt!“Da der Kleine seinen „eigenen Kopf“hat, lässt sich das Dilemma nur lösen mit: Kopf ab! So geschieht es auch. Wie häufig bleibt auch dieser erste Wurf eines Werks konsequent­er beim Thema und setzt nicht noch eins drauf wie die bekannten Fassungen des Stücks von 1926 und 1938, die aus Galy Gay am Ende die „menschlich­e Kampfmasch­ine“und das militärisc­he Milieu explizit zur Kampfstätt­e machen. Der Kampfplatz konzentrie­rt sich auf die unterdrück­te und sublimiert­e Sexualität. Diese tobt sich nicht nur als Geschlecht­erkampf aus, sie erweist sich vielmehr auch als der eigentlich­e „Vater“aller Dinge. Um das zu maskieren, benötigen Politik und Ökonomie das breit gestreute und menschenve­rachtende Aufgebot an Ideologie, seien es die Ehrbegriff­e, die Schlächter zu Rittern schlagen, oder seien es falsche Götzen, die Entsagung predigen und verkünden, es komme nur auf den Einzelnen und sein Gewissen an.

Brechts Urfassung endet mit einem Hohngeläch­ter, das Blody Five gilt, weil sein Kommandoge­brüll in das dünne Fisteln eines Stelzhuhns übergegang­en ist. Er taugt nicht mehr zum Uniformstä­nder noch als Mann, weil kein Mann eben kein Mann ist, wenn er sich seiner sexuellen Natur beraubte. Galy Gay dagegen, der nun trinkt wie ein Loch, raucht wie ein Schlot, betrügt wie ein Händler, mutiert zum „großen Soldaten, die in früher Zeit die Armee schrecklic­h machten“. Dabei war sein Name Gay einmal ganz anders eingeschri­eben in die Zeilen des Songs, der das Geschehen kommentier­t: „Up to mighty London / Came an Irishman one day / As the streets are paved with gold / Sure, everyone was gay.“Brecht, gefragt, ob sein Stück nicht etwas Barbarisch­es an sich habe, antwortete, er habe nichts als die „Vision vom Fleischklo­tz“in die ästhetisch­e Anschauung gebracht. Nur weil diesem der Mittelpunk­t fehle, halte er jede Veränderun­g aus, wie Wasser in jede Form fließt. Frage: Lebt er denn? Antwort: Er wird gelebt.

Die Urfassung, von der nur ein Exemplar vorhanden und die von Brecht handschrif­tlich gezeichnet ist, liegt zur gefälligen Übernahme in die Reihe haltbarer Werke der deutschen Literatur bereit. Als aktuelle Commedia dell’Arte auf der Bühne könnte sie ein großer Spaß für die globale Gesellscha­ft werden, ehe diese endgültig in die kahle Infosphäre des Silicon Valley abtaucht und im binären Code verröchelt.

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