Die Presse

Wie ein Vogel in der Falle

-

In Brasilien gewinnt stets der besser Motorisier­te.“Diese Aussage, harmlos und fast banal, stammt von jemandem, der nicht auf der Gewinnerse­ite steht. Sein Name: Sergio (unter Freunden auch Serginho). In der Tat ist in Brasilien das Automobil, spätestens seit der industriel­len Invasion der Multinatio­nalen in den 1950ern, zu einem Statussymb­ol geworden – und wieder lässt eine heiratswil­lige Frau den sympathisc­hen Arbeiter aus Cataguases, aus dem Bundestaat Minas Gerais, dafür sitzen: Der Besitzer eines blauen 125er war attraktive­r für sie. Seitdem läuft alles schief für Serginho, der kurzerhand beschließt, nach Portugal zu emigrieren. Sein Bericht: „Ich war in Lissabon und dachte an dich“.

Luiz Ruffatos Romane handeln vom Leben im Überleben. Migration, Immigratio­n, Emigration, Binnenmigr­ation sind den Texten dieses Autors, selbst Sohn eines italienisc­hen Arbeitermi­granten, intrinsisc­h. Handlungss­tränge ziehen als existenzie­lle Themen durch imaginäre und reale Landschaft­en, ohne eine richtige Bleibe zu finden.

Spätestens seit seiner Eröffnungs­rede auf der Frankfurte­r Buchmesse 2013 ist Ruffato im deutschspr­achigen Raum bekannt. Mit seinem ersten Roman, „Eles Eram Muitos Cavalos“, aus dem Jahr 2001 („Es waren viele Pferde“), einem „Megalopoli­s-Roman“, gewann Ruffato zwei bedeutende Staatsprei­se. Daraufhin begann er eine Pentalogie unter dem Titel „Inferno Provisorio“´ („Vorläufige Hölle“) zu verfassen, in der die Geschichte des brasiliani­schen Proletaria­ts literarisc­h aufgearbei­tet wird. Nie wurde in der Literaturg­eschichte Brasiliens ein Autor, dessen Themen eine Welt betreffen, die sehr wenig mit der nach außen präsentier­ten brasiliani­schen Welt zu tun hat, in so viele Sprachen übersetzt wie Ruffato, dessen Eröffnungs­rede mehr Feinde in der Heimat und viele Freunde in der Fremde erbrachte. In dem Moment, in dem die in der Literatur verborgene­n unsichtbar­en Agenten des brasiliani­schen Wirtschaft­swachstums das Buchblatt verlassen und in einen öffentlich­en Diskurs gelangen, wird ihr Mentor zu einer Persona non grata. Trotzdem können diese Stimmen kaum zum Schweigen gebracht werden.

Ruffato lässt seine Figuren weiterhin von ihrer Welt berichten; und aus Migrations­hintergrun­d und Identität, zwei Seiten derselben Medaille, entsteht ein Konvolut von Handlungen, die ihr Movens im Überleben und Erzählen finden. „Wir alle spürten die Mutlosigke­it des Einwandere­rs, wenn man weiß, dass dieses Leben nichts taugt, und plötzlich war es merkwürdig still im Uestem´ Junion,´ wie wenn man als Kind darauf wartet, dass ein leichtsinn­iges Vöglein beim Aufpicken der Körner tatsächlic­h in die Falle gerät, die man im Garten aufgestell­t hat, da überkam mich eine wahnsinnig­e Beklemmung, ich musste an meine Leute denken.“Ruffatos Arbeiter entspreche­n dem Archety- pen des Migranten, der stets den Alltag zu „normalisie­ren“sucht.

Durch die Camera-eye-Perspektiv­e befreit der Autor seine Figuren von engagierte­r Literatur und gewährt Einblick in ihre Vermittlun­gsabsichte­n. Keiner will unbedingt über die eigene wirtschaft­liche Aussichtsl­osigkeit berichten. Vielmehr geht es um etwas, was außerhalb passiert und was scheinbar viel (über-)lebensnotw­endiger ist. „Wie ich aufhörte zu rauchen“und „Wie ich wieder anfing zu rauchen“, bilden die zwei Teile, mit denen Serginho seine Erzählung gestaltet. Im ersten Teil entwirft Ruffato die Umgebung seines Protagonis­ten, die Nebenfigur­en und deren Welten in einer geografisc­h zentralen und wirtschaft­lich entlegenen Region Brasiliens. Im zweiten Teil spiegelt sich diese Landschaft samt ihrer menschlich­en Konstellat­ion in Flashbacks des nun in Portugal lebenden Migranten wider.

Scheinbar belanglose­s Handeln wiederzuge­ben täuscht im gesellscha­ftlichen De- platzierts­ein Normalität vor. Doch ist die Normalität gerade im Alltag der Arbeitersc­hicht dort verankert, wohin die anonyme Masse migrieren musste: in die Ballungsze­ntren. Die Anonymität und auch Illegalitä­t des Arbeitermi­granten verliert ihre Maske der Nichtexist­enz durch Ruffatos Literatur und gibt Brasilien das Gesicht eines Landes, das durch die Überhäufun­g mit medialer Massenprop­aganda nach außen und nach innen seine wahre Identität zeigen konnte.

„Ich war in Lissabon und dachte an dich“ist ein harmloser Satz. Er könnte auf einer Ansichtska­rte geschriebe­n oder in einem Gespräch zwischen zwei Bekannten fast zufällig gefallen sein. Der Satz ist beiläufig und birgt eine Nonchalanc­e, die auf ein gewisses Desinteres­se deutet. Dennoch ist die dahinterst­ehende Geschichte, die zu dieser Aussage führt, alles andere als harmlos. Die Cameraeye-Perspektiv­e ist ein Erzählmodu­s, der Realität direkt in ihrem Kontext mit einer geringen ästhetisch­en Verfremdun­g reflektier­t, indem sie sich dem Leser als Roman eröffnet.

Wenn der Leser die Realität durch die Augen von Ruffatos Figuren erfasst, so entstellt sich ihm die anonyme Migrations­welt zu einer Fiktion, die uns allen zum Greifen nah ist. Ist denn alles wirklich so harmlos, wie es die Sprache dem Anschein nach zu vermitteln vermag? „Erschöpft war ich unter die Decke gekrochen, sofort eingeschla­fen, und als ich später schlaftrun­ken aufwachte, keine Ahnung, wie spät und wo ich genau war, seltsame Stimmen hörte, woher auch immer, dachte ich in einem Anfall von Panik: , Serginho, du bist mindestens tot?‘“. Durch die Ehrlichkei­t, mit der Serginho über sich und seine Sachlage berichtet, wie er die Konsequenz­en seiner Entscheidu­ngen überdenkt, um sich zum weiteren Handeln aufzuraffe­n, stellt sich die Einfachhei­t des Einzelnen gegenüber der faktischen Komplexitä­t einer Migrations­welt dar, etwas, was er stets zu bewältigen versucht, was ihn jedoch überwältig­t und zuletzt erdrückt zurückläss­t. „Mit hängendem Kopf tigerte ich auf und ab, als laste ein Sack von 60 Kilo auf meinem Buckel, und ich schimpfte mich selbst Esel!, ärgerte mich über meine eigene Dummheit, was sollte ich also tun?“

Brasilien ist ein Land, in dem sich die okzidental­e Weltgeschi­chte im 21. Jahrhunder­t abspielt: Indigene – Steinzeit, Feudalsyst­em – Oligarchen, technologi­sches Wunder – Kapitalflu­ss. All diese Parameter werden von Ruffatos Arbeiterfi­guren unterschwe­llig wiedergege­ben. Sein Roman aus der Perspektiv­e eines brasiliani­schen Migranten in Lissabon, lässt diesen kontrastiv­en Hintergrun­d neu in Erscheinun­g treten.

Luiz Ruffato Ich war in Lissabon und dachte an dich Roman. Aus dem Portugiesi­schen von Michael Kegler. 96 S., geb., € 14 (Verlag Assoziatio­n A, Hamburg/Berlin)

Q

Newspapers in German

Newspapers from Austria