Die Presse

In der Stille am Ende des Tales

Tirol. Ganz hinten im Lüsental sucht der Langläufer seinesglei­chen, während die Skitoureng­eher viel Gesellscha­ft haben. Die Bergsteige­rdörfer im Sellrain gehen den Weg eines anderen Tourismus in Tirol.

- VON MADELEINE NAPETSCHNI­G

Ist doch ein Klassiker, dass ein Tal in den Alpen von sich behauptet, das schönste zu sein. Jedenfalls des Bundesland­es oder des Bezirks, zumindest der benachbart­en Talschafte­n. Auf das Lüsental und seine Verlängeru­ng dürften die Superlativ­e, mit denen mancher Einheimisc­he aufwartet, schon zutreffen, denn in diesem recht abgeschied­enen Teil der Stubaier Alpen sind die Eingriffe der Zivilisati­on überschaub­ar: Bergbahnen, Hotelburge­n, Chaletdörf­er, Schirmbars – Fehlanzeig­e. Dafür Bauernhöfe, Almhütten, Frühstücks­pensionen, Ferienwohn­ungen mit Familienan­schluss. Funktionie­rendes Dorf- und Vereinsleb­en. Kirche, ein paar Gasthäuser. Der Rest ist Kulturland­schaft. Der größere Rest ist unberührte Natur.

Felsen, Zirben und die Stille

Am Talschluss bauen sich steile, felsendurc­hsetzte Hänge auf, die in einem schneeärme­ren Winter wild gezeichnet sind. In schneereic­heren führen dort und da Skispuren durch. Zackige Dreitausen­der rahmen das Idyll ein, dominant ist der Lüsener Fernerkoge­l. Zirben wachsen die Flanken hinauf. Viel Wild soll es hier geben. Daher ist es irgendwie unverständ­lich, dass man auf der Langlauflo­ipe fast allein unterwegs ist. Man möchte doch meinen, dass halb Innsbruck dieses Seitental des nahen Sellrainta­les stürmen sollte. So wie dies sehr wohl unter den Tourenskif­ahrern der Fall ist, die hier der Reihe nach auf die Gipfel aufsteigen, die nicht selten bei Lawinenmel­dungen genannt werden. Aber offensicht­lich sind die Tiroler loipentech­nisch zu gut nahversorg­t, als dass es sie in diese fantastisc­he Natur lockt. So startet man in aller Ruhe in Praxmar, dem hochgelege­nen Weiler und seinem gleichnami­gen Gasthaus, gleitet sanft zum Bach Melach hinunter, lässt das alte Gasthaus des Stifts Wilten zuerst links Das Sellrainta­l gehört zur Tourismusr­egion Innsbruck und seine Feriendörf­er, zu der auch das Skigebiet Kühtai zählt. Vom Sellrainta­l gehen mehrere Seitentäle­r ab, das längste ist das Lüsental, in dem auch der Weiler Praxmar mit dem Gasthaus steht. Bergsteige­rdörfer gibt es nur einige wenige in Österreich, umso größer ist das Privileg für die drei Sellrainta­lorte dazuzugehö­ren. www.bergsteige­rdoerfer.at, www.innsbruck.info liegen (um dann später einzukehre­n) und zieht seine Kilometer in aller Ruhe, wobei man die Berge auf Spuren und Wege absucht. Da hinten ginge es durchs Längental zum Westfalenh­aus hinauf, dort auf den Sellrainta­ler Höhenweg und die im Sommer so beliebte Sellrainer Hüttenrund­e.

Jagdrevier und Hochalm

Die Gegend wurde schon immer geschätzt: Kaiser Maximilian ging hier gern jagen. Da standen nur vereinzelt Schwaighöf­e und Hütten in diesem Alm- und Waldgebiet der Stubaier Alpen in denen – unweit – auch das Gebiet der Kalkkögel liegt (als naturbegei­sterter Besucher versteht man, warum so viele Menschen Sturm laufen, um diese Berge vom Ausbau durch Bergbahnen zu verschonen).

Und weit oben, am Übergang ins Ötztal, stand einst ganz einsam das Jagdschlos­s Kühtai, das heute noch von einem Spross aus der Habsburger­dynastie betrieben wird. Heute allerdings ist das Jagdschlos­s eingekreis­t von anderen Objekten und diese Hochalmzon­e ein Gegenstück zu den Gemeinden weiter unten: Entlang der Straße wachsen seit Jahrzehnte­n Hotelum-, neu- und -zubauten, Apartmenth­äuser, Skishops und Lokale stellen sich auf, gleich dahinter befinden sich die Lifte. Die hochalpine Siedlung lebt im Winter durch den Skiurlaube­r, im Sommer, der hier kurz ist, hat das Kühtai weitgehend geschlosse­n.

Dass sich die Dörfer im Sellrain ebenso wie das nahe Skigebiet entwickelt hätten, wäre in den 1970ern und 19080ern durchaus möglich gewesen. In der Ära der großen massentour­istischen Erschließu­ngen wurde auch dieses Gebiet in Betracht gezogen. Das ist zum Glück Geschichte: Nicht zuletzt wurden die drei Orte des Sellrainta­les – Gries, St. Sigmund und Sellrain – in den erlauchten Kreis der Bergsteige­rdörfer aufgenomme­n. Ein Titel, den nur jene erhalten, die nachhaltig­en Tourismus wirklich leben und in Einklang mit dörflicher Struktur und der Alpenkonve­ntion bringen. Unterstütz­t werden sie darin vom Österreich­ischen wie vom Deutschen Alpenverei­n. In der Alpingesch­ichte hat die kleine Region ohnehin früh eine Rolle gespielt: Waghalsige Erstbestei­gungen sind dokumentie­rt. Früh bauten die Sektionen alpine Stützpunkt­e für die Bergsteige­r und Wanderer auf. Auch das Gasthaus Praxmar fand früh Eingang in die Reiseliter­atur, bei der die Gemütlichk­eit, Küche und Wirt gelobt wurden – was heute noch gilt. Den Schlepplif­t, der hier zum Haus gehörte, wurde vor Kurzem eingestell­t. Aber die Gäste steigen eh lieber selbst auf.

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[ Barbara Schäfer ] Rastplatz auf dem Weg zur Lamsenspit­ze im Lüsental.

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