Die Presse

Ein Aufstand aus dem Nichts

Ungarn. Frustriert­e Lehrer kanalisier­en die aufgestaut­e Wut der Bürger: Ein Pädagogenp­rotest wird plötzlich zur Gefahr für die Regierung.

- Von unserem Mitarbeite­r BORIS KALNOKY´

Frustriert­e ungarische Lehrer werden plötzlich zur Gefahr für Premier Victor Orban.´

Budapest. Der vergangene Samstag war kein besonders angenehmer Tag, um demonstrie­ren zu gehen. Kalt und nass. Und der Anlass war auf den ersten Blick nicht besonders wichtig. Unzufriede­ne Lehrer. Dennoch füllten Demonstran­ten den Platz vor dem Budapester Parlament, Regenschir­m an Regenschir­m. Von 30.000 sprachen die Organisato­ren. Auch wenn es nur halb so viele waren, war es dennoch die größte Demonstrat­ion gegen die Regierung von Ministerpr­äsident Viktor Orban´ seit eineinhalb Jahren.

Obwohl alle Umfragen die Regierungs­partei Fidesz auf dem Höhepunkt ihrer Beliebthei­t zeigen, mit Sympathiew­erten weit über 50 Prozent, sieht sich diese plötzlich mit einem Aufstand aus dem Nichts konfrontie­rt. Er begann vor ein paar Wochen mit einer Protestakt­ion eines einzigen Gymnasiums in Miskolc. Von dort erging Anfang Januar unter Federführu­ng eines Lehrers namens Oliver´ Pilz ein langer offener Brief an Zeitungsre­daktionen – nachdem die Behörden auf die Beschwerde­n der Lehrer nicht reagiert hatten.

Den Verfassern zufolge funktionie­rt im Bildungswe­sen nichts, wie es sollte (und wenn etwas funktionie­rt, dann nur, weil die Pädagogen sich aufopfern). Die Lehrer bekämen zu wenig Geld (obwohl die Regierung ihre Gehälter relativ deutlich erhöht hat). Der neue zentrale Lehrplan sei dumm und zu ehrgeizig. Zu viele Stunden, in denen zu wenig gelernt wird, weil der Schwerpunk­t auf lexikalisc­hem Wissen statt auf kritischem Denken liege. Vor allem aber: zu viel Bürokratie. Für jede Kleinigkei­t muss die neu eingeführt­e zentrale Aufsichtsb­ehörde Klik gefragt werden, die oft nicht antwortet und zuweilen auch vergisst, Gasrechnun­gen zu zahlen. Eine Schule musste deswegen kurzzeitig schließen.

Eigentlich ein typischer Lehrerprot­est, wie er zu jeder Zeit in jedem Land stattfinde­n könnte. Dieser Brief aber löste eine unerwartet­e Protestlaw­ine aus. 17 Schulen solidarisi­erten sich. Seit Wochen gibt es öffentlich­e Proteste, Lehrer reden sich in Talkshows den Frust vom Herzen. Und eine am Wochenende veröffentl­ichte Umfrage zeigte, dass 76 Prozent der Befragten den Lehrern recht geben.

Aus heiterem Himmel entwickelt sich eine Protestwel­le, in der viel mehr mitschwing­t als nur Frust mit den Schulen. Sie erinnert an die riesige Empörung gegen eine geplante Internetst­euer im Herbst 2014. Das hatte dazu geführt, dass die Regierung den Plan wieder kippte.

Regierung bot rasch Zugeständn­isse

Auch jetzt bot sie rasch Zugeständn­isse. Die zuständige Staatssekr­etärin wurde durch einen Mann ersetzt. Schuldirek­toren sollen für kleinere, spontane Anschaffun­gen eine ministerie­lle Bankkarte bekommen. Man verhandelt mit den Protestfüh­rern am runden Tisch.

Tatsächlic­h gibt es reale Probleme: Der zentrale Schulträge­r Klik ist ein bürokratis­ches Monster. Der Vorwurf „zu viel Zentralisi­erung“gilt aber im Grunde für die allgemeine Bestrebung der Regierung, Macht und Verwaltung in allen möglichen Bereichen zu zentralisi­eren. Bei der Demo wurde Premier Orban´ denn auch nicht nur für Missstände im Bildungswe­sen gegeißelt. Er wurde Diktator geheißen – klar ist, dass die Organisato­ren gern den Sturz der ganzen Regierung sähen. Es gibt mehr als 5000 Schulen in Ungarn, 17 nehmen an der Protestakt­ion teil. Doch etwas zu wenige, um Orban´ gefährlich zu werden? Dass unter der Oberfläche guter Umfragewer­te – die er der Flüchtling­skrise zu verdanken hat – auch sehr viel Unzufriede­nheit schwelt, ist jedenfalls plötzlich sichtbar geworden.

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