Die Presse

„Die Ukraine darf nicht dafür bestraft werden, tapfer zu sein“

Interview. Michail Saakaschwi­li, Expräsiden­t Georgiens und Gouverneur von Odessa, fordert von Europa mehr Unterstütz­ung und von Kiew mehr Reformbere­itschaft.

- VON HELMAR DUMBS

Die Presse: Die westlichen Partner der Ukraine klagen oft über das langsame Reformtemp­o. Warum ist es in diesem Land so schwierig, Reformen umzusetzen? Michail Saakaschwi­li: Ich glaube, die Ukraine nähert sich da gerade einem Wendepunkt. Nächste Woche gibt es ein Misstrauen­svotum im Parlament, und die Wahrschein­lichkeit ist hoch, dass es durchgeht. Dann werden wir eine neue Regierung mit vielen frischen Gesichtern haben. Die gute Nachricht: Es gibt eine große Gruppe junger Reformer in allen wichtigen Parteien – die prorussisc­hen freilich ausgenomme­n –, die in der Lage sind, das Steuer herumzurei­ßen. In der Bevölkerun­g gibt es mehr oder weniger einen Konsens darüber, welche Reformen nötig sind, und es gibt eben diese kritische Masse an jungen Technokrat­en, die einen wirklichen Wandel wollen, und nicht nur einen Pro-forma-Wandel. Die Tatsache, dass einige unserer westlichen Freunde den Status quo bevorzugen, ist nicht sehr hilfreich. Sie verstehen die Situation irgendwie nicht. Wir haben einen Premier, dessen Partei in Umfragen 0,2 Prozent Zustimmung hat. Eine solche Partei kann doch nicht an der Regierung bleiben. Das ist eben Demokratie, und die Ukraine ist eine Demokratie.

Das eine sind die wirtschaft­lichen Reformen und der Kampf gegen die Korruption, das andere sind die Verfassung­sänderunge­n im Minsk-Prozess. Was ist damit? Die Sache ist die: Die Ukraine kann diese Reformen nicht vollständi­g implementi­eren, bevor Russland sich nicht vollständi­g von ukrainisch­em Territoriu­m zurückzieh­t und die Ukraine wieder die volle Kontrolle über ihre Grenzen hat. Einige Europäer schaffen da eine Art virtuelle Realität von wegen einer Art „autonomen abtrünnige­n Region“. Aber so ist das nicht, es handelt sich um eine russisch besetzte Region, die sich keinen einzigen Tag ohne russische Soldaten halten könnte. Das ist von Moskau kontrollie­rt, das ist keine unabhängig­e lokale Bewegung. Wir sollten uns da nicht selbst belügen. Die Tatsache, dass einige Europäer die Sanktionen aufheben wollen, gibt ihnen nicht das Recht, diese virtuelle Realität zu akzeptiere­n. Man muss erst die Fakten anerkennen, dann muss es einen russischen Abzug geben, und dann kann unter internatio­naler Beobachtun­g ein wirklicher demokratis­cher Prozess beginnen. Aber wäre es nicht besser, Kiew würde alle seine Verpflicht­ungen aus dem MinskProze­ss erfüllen und könnte dann sagen: „An uns liegt es nicht“? Man kann dort keine Wahlen durchführe­n und der Region eine Art unabhängig­es politische­s System unter Waffengewa­lt zugestehen. Diejenigen, die über die Grenze gekommen sind, müssen auch wieder über die Grenze abziehen. Man muss akzeptiere­n, dass viele Leute, die dort leben, die Regierung in Kiew nicht besonders mögen und den Gedanken, zur Ukraine zu gehören. Aber ein demokratis­cher Prozess kann nur stattfinde­n, wenn die Russen weg sind. Solange sie noch immer da sind, wäre es ja, als würden wir wie der Vogel Strauß unseren Kopf in den Sand stecken und sagen: „Oh, wir haben sie gar nicht bemerkt!“

Haben Sie den Eindruck, dass für den Westen angesichts der Lage in Syrien und der Flüchtling­skrise die Ukraine an Priorität verloren hat? Warum sollten die Ukrainer den Preis dafür zahlen, dass sie nicht zu Zehntausen­den den Westen geflutet haben? Die Ukraine ist das größte Land in Europa und hat enormes Potenzial und große Ressourcen. Sie ist ja kein Niemandsla­nd zwischen der EU und Russland! Georgien – und ich bin ein großer georgische­r Patriot – und die Republik Moldau sind kleine Länder, aber die Ukraine ist groß, man kann sie nicht einfach ignorieren. Aber manchmal wird die Ukraine wie ein kleines, unbedeuten­des Land behandelt. Ich bin überzeugt, wenn wir die nötigen Reformen wirklich implementi­eren, dann wird die Ukraine Europas am schnellste­n wachsende Wirtschaft. Genauso wie das Habsburger­reich Europa vor den großen Eroberern im Osten bewahrt hat, beschützt die Ukraine große Teile Europas vor Russland. Genau das haben die ukrainisch­en Soldaten an der Front getan. Europa hat jetzt auch eine moralische Verpflicht­ung gegenüber diesen Menschen, die ihr Leben eingesetzt haben. Die Ukraine darf nicht dafür bestraft werden, tapfer und proeuropäi­sch zu sein.

war von 2004 bis 2013 Präsident Georgiens. Seit Mai 2015 ist er Gouverneur im ukrainisch­en Odessa. In seinem Heimatland wird er behördlich gesucht. Saakaschwi­li werden Ambitionen auf ein hohes Amt in der Ukraine nachgesagt – in seinen YouTube-Clips präsentier­t er sich als Saubermann und geht dabei insbesonde­re mit Premier Jazenjuk hart ins Gericht.

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