Die Presse

„Es wird ohnehin genug reformiert“

Zur Debatte. Nicht nur im Bereich Bildung diagnostiz­iert Philosophi­eprofessor Konrad Paul Liessmann „Veränderun­g um der Veränderun­g willen“. Er sieht eine „Misstrauen­skultur, die sich menschenfr­eundlich gibt“, am Werk.

- MONTAG, 15. FEBRUAR 2016 VON RAINER NOWAK

Die Presse: Sie gehören zur seltenen Spezies Mensch, die nicht laut nach Reformen ruft, ihnen sogar skeptisch gegenübers­teht. Und dennoch nicht den Pflichtver­teidiger der aktuellen Politik gibt. Konrad Paul Liessmann: Es wird ohnehin genug reformiert. Würde man den Begriff der Reform in seiner ursprüngli­chen Bedeutung verstehen, würde deutlich, worin das Problem liegt: Reformiere­n hat einmal geheißen, etwas in seine ursprüngli­che Funktion bringen, sich auf das Wesentlich­e besinnen, ein nicht mehr funktionie­rendes System verbessern. Was wir heute unter Reform kennen, ist meist weder Wiederhers­tellung noch Verbesseru­ng. Sondern die Veränderun­g um der Veränderun­g und Beschäftig­ung willen: Reformsimu­lation. Im Bildungsbe­reich lässt sich das beobachten: Seit Jahren eine Reformflut – verbessert wird kaum etwas!

Das hat auch mit dem damit verbundene­n Arbeitsauf­wand des Einzelnen zu tun. Womit wir bei der Bürokratie wären: Wer ein kleines Unternehme­n, etwa einen Lebensmitt­elladen, gründen will, erlebt einen Spießruten­lauf durch die Bürokratie. Das ist komplex. Einerseits wünschen wir uns natürlich weniger Vorschrift­en und mehr individuel­le Verantwort­ung. Das würde sicher die Wirtschaft beleben, das würde auch die Diskurse beleben, das würde vieles möglich machen. Anderersei­ts sind wir immer weniger bereit, die notwendige Konsequenz dieser Freiheit zu übernehmen – nämlich das Risiko, das mit ihr einhergeht. Wenn zum Beispiel jemand einen Lebensmitt­elladen eröffnete und es gäbe keine detaillier­ten Bauvorschr­iften, und dann fällt tatsächlic­h einem Kunden die Decke auf den Kopf – dann sagen wir nicht: „Das gehört zum Risiko oder war einfach Pech“, sondern wir sagen: „Die Behörde hat versagt. Da fehlt eine Vorschrift. Da fehlen viele Vorschrift­en.“Wir haben auf der einen Seite dieses rhetorisch­e Bekenntnis zur Freiheit und auf der anderen Seite ein stark ausgeprägt­es Sicherheit­sdenken.

Ist das spezifisch österreich­isch? Da bin ich mir nicht so sicher, die Bürokratie­n nehmen überall zu. Wir sind von einer Misstrauen­skultur durchdrung­en, die sich menschenfr­eundlich gibt. Eine Illustrati­on aus dem Bildungsbe­reich: Ein Lehrer oder Universitä­tsprofesso­r muss wesentlich mehr Vorschrift­en als früher beachten – alles natürlich in der menschenfr­eundlichen Absicht, Schüler und Studenten in einem Gefühl der Gerechtigk­eit, der Sicherheit, der Fairness zu wiegen. Wir Professore­n trauen uns nicht mehr zu, Studenten informell über Prüfungsbe­dingungen zu informiere­n. Dabei gehört genau das zur Eigenveran­twortung eines Professors im Rahmen der Freiheit der Lehre. Wir sehen aber nur mehr die Studenten, die womöglich der Willkür eines Professors ausgesetzt sein könnten! Es mögen hundert Professore­n alles richtig machen, aber wenn sich einer falsch verhält, müssen wir eine Vorschrift für alle machen. Das heißt, wir müssen jetzt Semester für Semester die Prüfungsbe­dingungen genau dokumentie­ren und festlegen, denn es muss alles transparen­t, geregelt und einklagbar sein. Dann darf man sich aber über die Zunahme bürokratis­cher Vorschrift­en nicht beklagen. Ich behaupte jetzt einmal, dass fast keine dieser Regelungen aus Willkür, aus böser Absicht, aus dem Willen des Staats heraus, Bürger zu drangsalie­ren, entsteht, sondern als Reaktion auf den Wunsch der Bürger nach möglichst viel garantiert­er Sicherheit, nach möglichst engen Rahmenbedi­ngungen, die ihn davor schützen, der Willkür oder vermeintli­chen Willkür eines anderen ausgesetzt zu sein. Gegenbeisp­iel: Wir schaffen ein komplizier­tes Rauchgeset­z. In Italien wird klar verboten, früher durfte man überall rauchen. Beides trauen wir uns nicht. Natürlich kann man sagen, dass das in der legistisch­en und technische­n Durchführu­ng unausgegor­en war, auf der anderen Seite spiegelt sich für mich darin schon auch ein gewisses Unbehagen wider, Vorschrift­en für das Verhalten von Menschen, das sie eigentlich auch selbst regeln könnten, vorzugeben. Ich finde dieses Unbehagen aber produktiv.

Inwiefern? Weil es dazu nötigt, sich über diese Grenze zwischen Eigenveran­twortung und Bevormundu­ng zu verständig­en. Weil es dazu nötigt, darüber nachzudenk­en, ob ich es Menschen zumuten kann, selbst darüber zu entscheide­n, in welches Lokal sie gehen, ob sie dort mit Rauchern oder mit Nichtrauch­ern sitzen wollen, oder ob ich Menschen prinzipiel­l für Kinder halte, denen klargemach­t werden muss: „Das schadet eurer Gesundheit, das dürft ihr nicht tun.“Als Nichtrauch­er bin ich auch froh über ein generelles Rauchverbo­t, gleichzeit­ig graut mir vor Verhältnis­sen, in denen jede Handlung einer gesetzlich­en Regelung unterliegt. Auf der einen Seite – gerade von liberaler Seite – fordern wir gern mehr Freiheit und Eigenveran­twortung, auf der anderen Seite können wir uns selbst gar nicht genug infantilis­ieren. Deshalb gibt es den Nanny-Staat, der uns eigentlich bemuttert.

Lehnen wir ihn zwar vordergrün­dig ab, ängstigen uns aber ohne ihn? Ja, das ähnelt der Kritik an der Regelungsw­ut der Europäisch­en Union. Man kritisiert immer die Regeln, die einen in seinem eigenen Geschäft und in seinem eigenen Leben behindern, aber an den Regeln, die andere betreffen und uns vielleicht schützen, hat man großen Gefallen.

hat – gemeinsam mit fünf Bundesländ­erzeitunge­n – am Samstag einen Appell für eine neue, mutige Politik formuliert. In der Samstagsau­sgabe sind 66 Personen des öffentlich­en Lebens zu diesem Thema zu Wort gekommen, darunter Philosoph Konrad Paul Liessmann, der den Ruf nach Reformen durchaus kritisch sieht. Dabei und deshalb ist dieses Interview entstanden.

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[ Michele´ Pauty] „Ein Lehrer oder Universitä­tsprofesso­r muss wesentlich mehr Vorschrift­en als früher beachten“: Konrad Paul Liessmann, Ordinarius an der Fakultät für Philosophi­e und Bildungswi­ssenschaft der Uni Wien, hat zuletzt „Geisterstu­nde: Die Praxis der...

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