Die Presse

Ein Besuch im Musikverei­n kann zur Zeitreise werden

Beim Clemencic Consort erfahren wir, worum Herrscher im 15. Jahrhunder­t sich am liebsten gezankt haben: um gute Kapellmeis­ter. Wer hat schon einmal etwas von Alexander Agricola gehört?

- E-Mails an: wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

bermorgen ist es wieder so weit: Rene´ Clemencic, der ein paar Tage später seinen 88. Geburtstag feiern wird, holt sein Consortium wieder in den Brahmssaal des Wiener Musikverei­ns und präsentier­t Musikfreun­den dort Staunenerr­egendes. Das ist ja seit Jahr und Tag die Stärke dieses Universalg­elehrten unter den Musikern, dass er des Forschens und Grabens in den Archiven nicht müde wird. Kaum eines seiner Konzertpro­gramme hat sich je wiederholt. Wer die Zyklen verfolgt hat, staunt auch über die Vielfalt des ClemencicR­epertoires, das vom frühen Mittelalte­r bis in die Klassik reicht.

Wobei er jene Zeitalter besonders gern berücksich­tigt, in denen es für die Menschheit noch keineswegs selbstvers­tändlich war, Melodien vor allem in Dur und Moll zu singen. Es ist ja so: Die Originalkl­angmode hat uns eine Erweiterun­g des Horizonts um einige Jahrzehnte gebracht. Bis hinunter zu Monteverdi sind uns die Großmeiste­r der Musikgesch­ichte mittlerwei­le nicht nur dem Namen nach, sondern auch dank vieler klingender Beispiele in den Konzertsäl­en, Opernhäuse­rn und vor allem auf Tonträgern vertraut.

Was vor dem „Orfeo“liegt, ist weitaus weniger gängig. Die Dur-MollGrenze scheint doch recht undurch- lässig für den musikalisc­hen Normalverb­raucher zu sein.

Rene´ Clemencic hat sich davon nie irritieren lassen. Sein Publikum auch nicht. Am Mittwoch wird es Musik von Alexander Agricola lauschen. Dem Namen sind selbst hartgesott­ene Musikverei­ns-Habitues´ wohl kaum je begegnet. Und doch war er einer der Größten. Regenten haben sich um ihn gerissen. Anders als bei Meister Bach, den geringere Fürsten wegen Insubordin­ation ins Gefängnis warfen, schrieb der König von Frankreich Bettelbrie­fe an den Medici-Herzog von Florenz, der ihm den Musikanten abspenstig gemacht hatte.

Das war, damit wir uns der historisch­en Dimensione­n bewusst werden, ein Vierteljah­rtausend früher!

Grund genug, neugierig zu sein und sich auf eine Hörreise zu begeben, um zu erfahren, was die Zeitgenoss­en an den Kompositio­nen des in Paris und Neapel Umschwärmt­en so gefesselt hat: eine bis heute bezaubernd­e Eleganz und Geschmeidi­gkeit der Melodik, die sich noch dazu in aller Regel auf mehreren Etagen des Klanggebäu­des ereignet: Man darf dabei auch studieren, was das Wort Kontrapunk­t in Wahrheit bedeutet, die Harmonisie­rung völlig voneinande­r unabhängig­er Stimmen.

Apropos: Den Komponiste­n ereilte in Spanien dasselbe Schicksal wie seinen letzten Dienstherr­n, Philipp den Schönen . . .

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VON WILHELM SINKOVICZ

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