Die Presse

Grenzen öffnen und schließen kann man nicht nach Belieben

Zuerst hat man den Rechtsstaa­t ausgehebel­t, um die Grenzen für die Massen von Flüchtling­en zu öffnen. Dann setzt man EU-Recht aus, um sie zu schließen.

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Fast haben wir uns schon wieder daran gewöhnt: An die Staumeldun­gen an den Grenzüberg­ängen zu Deutschlan­d, dem sogenannte­n großen deutschen Eck. An den Wochenende­n zu Ferienbegi­nn und Ferienende sind die Staus besonders schlimm. Bis zu zwei Stunden mussten die Reisenden zuletzt am Walserberg warten, die deutsche Polizei hatte nur eine einzige Spur geöffnet.

Am provisoris­chen Kontrollpu­nkt stand ein gelangweil­ter Polizist, der reglos die langsam vorbeifahr­enden Autos betrachtet­e. Man fühlt sich schikanier­t. Früher, als es noch eine echte Grenzkontr­olle gab, öffnete man wenigstens mehrere Spuren, wenn es nötig schien.

Es war so ein Anlassfall, in dem man als EU-Bürger besonders deutlich das Versagen der europäisch­en Politik erkennt. Viele, die in diesen Wochen auf dem Weg in den Skiurlaub im Stau standen und stehen, stellen sich die Frage: Warum kontrollie­rt man jetzt uns, und warum hat man es bis vor Kurzem als unzumutbar empfunden, die Migranten an den Grenzen zu kontrollie­ren und zu registrier­en?

Warum hat man nicht von Anfang an den Zustrom geregelt? Warum hebelt man für die einen den Rechtsstaa­t aus, damit sie ungehinder­t „durchreise­n“können, um dann plötzlich wieder EU-Recht auszusetze­n, weil man auf die Notbremse steigen muss? Es beschleich­t einen das ungute Gefühl, dass Gesetze willkürlic­h angewendet werden. Es wäre interessan­t zu erfahren, wie viele Schlepper und illegal Einreisend­e die deutsche Polizei an den Ferienwoch­enenden unter den Skiurlaube­rn an den Autobahn-Grenzkontr­ollpunkten aufgegriff­en hat.

Jüngeren Mitbürgern waren Kontrollen bisher unbekannt. Sie wuchsen in einem Europa (scheinbar) ohne Grenzen auf, eine der größten Errungensc­haften der europäisch­en Einigung. Nun ist es damit vorbei. Bald könnte auch die besonders sensible Grenze am Brenner wieder dichtgemac­ht werden.

In diesem Fall wird das Versagen der EU-Politik bei der Sicherung der Außengrenz­e besonders anschaulic­h. Zuerst hat man Italien mit den Flüchtling­sströmen über das Mittelmeer alleingela­ssen. Die Aktion Mare Nostrum war zwar gut organisier­t, auf Dauer konnte das Land die Massen der Ankommende­n aber nicht allein bewältigen. Wen hat das in Europa gekümmert? Österreich ist erst aufgewacht, als ruchbar wurde, dass Italien Migranten mit dem Zug Richtung Österreich und Deutschlan­d „weiterreis­en“lässt.

Jetzt, wo uns das Problem nach dem Öffnen der Balkanrout­e über den Kopf wächst, will Österreich die Brennergre­nze schließen. Wer nur ein wenig Sensibilit­ät für die Geschichte des Landes hat, wird begreifen, dass dies ein deutliches Zeichen für das Scheitern der europäisch­en Idee wäre. Es war mehr als symbolisch, dass durch das Schengener Abkommen die Binnengren­ze am Brenner verschwund­en ist.

Und das soll jetzt alles rückgängig gemacht werden, nur weil die Politik nicht mutig genug ist, das Problem an der Wurzel zu packen? Südtirols Landeshaup­tmann hat zu Recht darauf hingewiese­n, dass man nicht Schengen aussetzen, sondern Dublin reparieren muss. Und das besser gestern als heute, möchte man unterstrei­chen.

Es ist einem Normalbürg­er unverständ­lich, wie man Dublin in dieser Form überhaupt beschließe­n konnte. Kritiker monierten schon damals, dass die Regelungen für den Schutz der Außengrenz­e völlig unzureiche­nd seien. Man ignorierte sie. Ob dies aus Naivität oder bewusst geschehen ist, sei dahingeste­llt und spielt auch keine Rolle mehr.

Es wird nichts nützen und ist unverantwo­rtlich, nun die Rolle als Wächter der Tore der EU an die Türkei zu delegieren. Ist es überhaupt legitim, dass jetzt quasi ein Drittland entscheide­n soll, welche und wie viele Menschen in die EU gelassen werden? Wer als Asylwerber gilt und wer nicht? Ein Land, das Krieg gegen Teile der eigenen Bevölkerun­g führt? Dieses Problem muss wohl die EU selbst lösen. Ob uns das gefällt oder nicht.

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VON GUDULA WALTERSKIR­CHEN

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