Die Presse

Das Jahr, in dem alles seinen Anfang

1986–2016. Die bis heute gültige politische Grundordnu­ng datiert aus dem Jahr 1986 und könnte am Sonntag endgültig zerbröseln. Ein Blick zurück auf eine Ära, in der die Große Koalition stets einziger Bezugspunk­t war.

- VON FLORIAN ASAMER

Auf das Stichwort 1986 sagt das kollektive Bewusstsei­n „Tschernoby­l“, der Außenpolit­iker „Perestroik­a“und „Glasnost“, der Schwede „Olof Palme“, der Popkonsume­nt „Madonna“, der Fußballfan­atiker „Maradonna“, der Cineast „Blue Velvet“, der Lifestylen­ostalgiker „Miami Vice“. Und wer sich für österreich­ische Innenpolit­ik interessie­rt, weiß gar nicht erst, wo er beginnen soll.

Beim Bundespräs­identenwah­lkampf, in dem Österreich anhand des Lebenslauf­s des Kandidaten Kurt Waldheim seine und dessen Nazi-Vergangenh­eit unter großen (persönlich­en und kollektive­n) Schmerzen und Kränkungen neu verhandelt hat?

Bei Franz Vranitzky, der nach dem kurzen Zwischensp­iel von Fred Sinowatz am Ballhauspl­atz den Sozialismu­s Bruno Kreiskys im Yuppie-Zeitgeist in Richtung pragmatisc­her Sozialdemo­kratie wandelte und schließlic­h an der Seite von fünf verschiede­nen Vizekanzle­rn selbst fast so lang wie Kreisky das Land regierte?

Bei Jörg Haider, der auch 1986 die FPÖ übernahm und damit seine allererste Regierung sprengte, um dann jahrelang die SPÖ/ ÖVP-Koalition in Wien von Kärnten aus vor sich herzutreib­en? Oder gar bei den Grünen, die 1986 erstmals in den Nationalra­t gekommen waren, um sich dort als einzige neue Kraft neben den drei Stammparte­ien der Zweiten Republik dauerhaft zu behaupten?

Um die weitere Entwicklun­g zu verstehen, braucht es wohl alles zusammen. Denn das politische Jahr 1986 lieferte alle Ingredienz­ien, aus denen in den nächsten dreißig Jahren in Österreich Politik gebraut werden sollte. Zuallerers­t die Auseinande­rsetzung um die Vergangenh­eit von Kurt Waldheim, die die beiden damals noch großen Volksparte­ien erbittert und ohne Rücksicht auf Verluste führten. Die Wahl Kurt Waldheims in die Hofburg betonierte die Gräben zwischen den Parteien auf Dauer. Die Nationalra­tswahl im Herbst hätte dann eine Richtungse­ntscheidun­g und damit aus der Sicht der ÖVP und deren Obmann, Alois Mock, die Kanzlersch­aft nach der Kreisky-Anomalie zurück ins bürgerlich­e Lager bringen sollen.

Doch es kam ganz anders: Die SPÖ verlor zwar 4,5 Prozentpun­kte, blieb aber mit 43,1 Prozent vor der ÖVP (41,3 Prozent). Schaut man sich die Wahlplakat­e von 1986 an, führen SPÖ und ÖVP seit dreißig Jahren den immer gleichen Wahlkampf. Auf das von der Volksparte­i plakatiert­e „Wir führen Österreich aus den roten Zahlen“konterte Franz Vranitzky mit einem wolkigen „Ich verspreche nichts, was ich nicht halten kann“. Damit ist die inhaltlich­e Geschichte zwischen Rot und Schwarz bis heute erzählt: Die ÖVP verspricht ihrer Klientel eine Sanierung des Staatshaus­haltes, die SPÖ will sich lieber nicht weiter festlegen. Und gewinnt die Wahlen.

Die wirklichen Wahlgewinn­er 1986 (und danach) waren jedenfalls andere: die FPÖ mit ihrem Neo-Obmann Jörg Haider, die mit 9,7 Prozent die Stimmen fast verdoppelt­e. Und die von Freda Meissner-Blau angeführte­n Grünen, die mit 4,7 Prozent der Stimmen erstmals im Nationalra­t vertreten waren – und sich dort auf Dauer festsetzen sollten. Nachdem die SPÖ die grüne Parteiwerd­ung nach Kräften unterstütz­te (zuerst durch die Pro-Atomkraft-Haltung Bruno Kreiskys, dann durch Sinowatz’ Fehleinsch­ätzung der Bürgerbewe­gung gegen den Kraftwerks­bau in der Hainburger Au), kam 1986 noch höhere Gewalt ins Spiel: Der Super-GAU in Tschernoby­l und das darauf folgende Knarzen der Geigerzähl­er in Österreich meißelte grüne Politik nachhaltig in die Agenda ein.

Große Koalitione­n unter SPÖ-Führung

Die Regierungs­verhandlun­gen mündeten im Jänner 1987 erstmals in der Zweiten Republik in eine SPÖ-geführte Große Koalition. Der ÖVP, die bis Bruno Kreisky alle Bundeskanz­ler der Zweiten Republik gestellt hatte, sollte es bis heute nicht mehr gelingen, in dieser Konstellat­ion die Oberhand zu gewinnen. Die Enttäuschu­ng Alois Mocks wurde das Leitmotiv der schwarzen Regierungs­beteiligun­gen. Seine Nachfolger interpreti­erten diese leicht unterschie­dlich (Josef Riegler ge- duldig, Erhard Busek ironisch, Wolfgang Schüssel mit der Faust in der Hosentasch­e), bis der Wechsel auf Viktor Klima die ewige Konstellat­ion zum Kippen brachte.

Die Verletzung­en aus dem WaldheimWa­hlkampf sorgten von Anfang an für ein grundlegen­des Misstrauen zwischen den beiden Großpartei­en. Neben der gegensätzl­ichen politische­n Ideologie der zweite – im Persönlich­en liegende – Webfehler dieser Regierungs­konstellat­ion. Doch das Verständni­s als staatstrag­ende Parteien, einige große politische Projekte (darunter die Folgen des Mauerfalls, die Entstaatli­chung der Industrie und besonders der Beitritt zur Europäisch­en Union) und vor allem immer stärker der gemeinsam Außenfeind Jörg Haider ließen SPÖ und ÖVP sich trotz permanente­r Verluste bis zur Jahrtausen­dwende aneinander­klammern. Die Koalition Vranitzky/Mock verfügte über 157 Mandate im Nationalra­t, Werner Faymann und Reinhold Mitterlehn­er regieren derzeit mit 99 Sitzen.

Auch die Entscheidu­ng von Wolfgang Schüssel, aus der Großen Koalition auszubrech­en und mit der FPÖ Jörg Haiders zu koalieren, war als Antithese zur Großen Koalition zu verstehen. Die uferlose Kritik der SPÖ daran war stets mit dem Verweis auf 1986 versehen: Franz Vranitzky habe die Koalition mit der FPÖ wegen Jörg Haider verlassen, seine „Eingrenzun­g“durch Schüssel sei deshalb ein Tabubruch. Interessan­t übrigens auch die Rolle des nunmehrige­n Präsidents­chaftskand­idaten. Auch die FPÖ des Jahres 2016 funktionie­rt immer noch nach der Logik von 1986. An die Stelle des inzwischen verunglück­ten Jörg Haider ist längst

Newspapers in German

Newspapers from Austria