Die Presse

Der neue Name der Gigantoman­ie

Chongqing. Die größte Stadt der Welt soll mit Milliarden­investitio­nen das Hightech-Zentrum der Volksrepub­lik werden. Über das Leben unter 32 Millionen. Ein Besuch in der Zukunft.

- VON HEDI SCHNEID

Chongqing/Wien. Es gibt sie noch: die Märkte, auf denen Bauern Gemüse und Obst in Strohkörbe­n anbieten, die Garküchen, wo auf winzigen Kochstelle­n der für die Stadt berühmte, extrem scharfe Feuertopf brodelt. Man muss nur genau hinschauen, denn in den Häuserschl­uchten zwischen Hunderten Wolkenkrat­zern, die gut und gern für eine Neuauflage von „Blade Runner“dienen könnten, verliert sich rasch der Blick. Kein Wunder, denn in diesem Moloch konzentrie­rt sich das Auge auf eine glitzernde neue Welt, die mit dem alten China nur wenig zu tun hat.

Chongqing heißt die Metropole am Zusammenfl­uss von Jangtse und Jialing. Noch nie gehört? Verständli­ch, richtete sich das Augenmerk doch bisher auf Hongkong, Shanghai und Peking. Aber den Namen sollte man sich merken. Chongqing ist mit der Größe Österreich­s und 32 Millionen Einwohnern die größte Stadt der Erde. Und sie ist auch die wachstumss­tärkste Metropole der Welt: 2015 legte das BIP fast doppelt so stark zu wie in der ganzen Volksrepub­lik, wo das Wachstum offizielle­n Angaben zufolge bei 6,9 Prozent lag.

Groß, größer am größten – diese Worte hört man oft, wenn offizielle Vertreter von Politik und Wirtschaft ihre Pläne präsentier­en. Wer glaubt, dass der Größenwahn in den Emiraten beheimatet ist, der muss nach Zentralchi­na reisen. Die Gigantoman­ie hat hier einen neuen Namen gefunden: Chongqing.

Die Stadt aus Beton und Stahl, der die Stadtväter durch viel Grün eine lebenswert­e Note geben wollen, ist von der Regierung auserkoren, das Herz des neuen China zu werden, das vor allem durch neue Innovation­en punkten will. Möglicherw­eise ist es kein Zufall, dass Deng Xiaoping, der Wegbereite­r der Modernisie­rung und radikaler Reformen, in der Nähe geboren wurde.

Geprägt vom starken Rückgang des Wirtschaft­swachstums, das Präsident Xi unter dem Schlagwort der „neuen Normalität“als gewünscht und gesteuert propagiert, und den Fehlentwic­klungen der Old Economy, die zu enormen Überkapazi­täten in der Schwerindu­strie und extremer Umweltbela­stung geführt haben, hat sich die Politik die Hinwendung zu Hightech und Dienstleis­tungen auf die Fahnen geschriebe­n. Sie sollen die Schaffung einer „gemäßigten wohlhabend­en Gesellscha­ft“, wie es im neuen Fünfjahres­plan heißt, garantiere­n. „Will die Regierung ihr erklärtes Ziel einer Verdoppelu­ng des BIPs von 2010 bis zum 100. Jahrestag der Gründung der Kommu- nistischen Partei 2021 erreichen, braucht sie Wachstumsr­aten von rund 6,5 Prozent pro Jahr“, sagt der österreich­ische Wirtschaft­sdelegiert­e in Peking, Martin Glatz, im Gespräch mit der „Presse“.

Das neue Silicon Valley

Die Stadtregie­rung in Chongqing pumpt deshalb nicht nur Milliarden in die Infrastruk­tur (zwei neue Häfen, ein neuer Flughafen). Mit Investitio­nen von 1,2 Billionen Renminbi (150 Mrd. Euro) entsteht eine neue Sonderwirt­schaftszon­e, die Shenzhen und Pudong (Shanghai) übertreffe­n soll. Dort sollen sich Hochtechno­logiefirme­n aus aller Welt ansiedeln, die den Ruf der Stadt als neues Silicon Valley in alle Welt tragen sollen.

Liangjiang heißt das 1200 Quadratkil­ometer große Areal – eine Stadt in der Stadt, wie Kommunikat­ionschef Zhang Li sagt. Vor fünf Jahren erfolgte der Spatenstic­h, 2020 soll die Zone fertig sein – eine für China normale Entwicklun­gsgeschwin­digkeit. In ganz Chongqing ist kein Haus älter als 30 Jahre. Knapp 2000 Firmenproj­ekte sind schon operativ, weitere 2100 wurden gestartet. Sie alle entfallen auf zehn Bereiche, die als strategisc­he Wachstumsi­ndustrien definiert wurden. Dazu zählen Robotik, das Internet der Dinge, Smart Cars, mobile Endgeräte ebenso wie er- neuerbare Energien, Biomedizin und Umweltschu­tz. Schon jetzt ist jeder dritte weltweit verkaufte Laptop made in Chongqing.

Wer hierherkom­mt (wie AT & S und Magna), profitiert nicht nur von Steuererle­ichterunge­n und guter Wasser- und Stromverso­rgung, sondern auch von der Lage an der neuen Seidenstra­ße. Auch diese Initiative zur Wiederbele­bung der jahrtausen­dealten Handelsrou­te zielt auf die wirtschaft­liche Stärkung der Westprovin­zen ab. 18 Tage dauert der Warentrans­port per Bahn bis Düsseldorf, 30 Tage auf dem Seeweg.

Und schon wurde das nächste Megaprojek­t unter dem Motto: „Wir gestalten die wirtschaft­liche Landkarte neu“aus der Taufe gehoben: ein City-Cluster mit der Sichuan-Kapitale Chengdu.

Ob auch die Millionen Wanderarbe­iter, die meist in den Kellergesc­hoßen der neuen Glitzerwel­t hausen, je von den Wachstumsf­antasien profitiere­n werden, ist ungewiss. In den offizielle­n Statistike­n existieren sie gar nicht. Auch hier muss man genau hinschauen – auf die Gerüste an den Hochhäuser­n.

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[ Schneid ] Schöne neue Welt? Binnen 30 Jahren wurde die Megametrop­ole Chongqing aus dem Boden gestampft.

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