Die Presse

Ein Vater der Computerch­emie

Nachruf. Walter Kohn, der als Halbwüchsi­ger vor den Nazis aus Wien flüchten konnte und 1998 den Chemie-Nobelpreis erhielt, ist mit 93 Jahren in seiner Wahlheimat USA gestorben.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Eigentlich bin ich Physiker.“So reagierte Walter Kohn 1998 auf die Nachricht, dass ihm ein Nobelpreis zugesproch­en worden war – der für Chemie. Aber so klar sind die Grenzen nicht in dem Feld, in dem Kohn seine grundlegen­den Arbeiten geschriebe­n hatte, für die er geehrt wurde: In dem der Festkörper bzw. der Berechnung dessen, mit welchen Eigenschaf­ten sie ausgestatt­et sind. Das machte Kohn mit seiner Dichtefunk­tionaltheo­rie handhabbar, sie steht in der zitierten Fachlitera­tur ganz oben, und große Teile der Computatio­nal Physics arbeiten auf ihrer Grundlage.

Den ersten Anstoß, seine breite Neugier auch in diese Richtung zu lenken, erhielt Kohn, der am 9. März 1923 in eine jüdische Mittelklas­sefamilie in Wien geboren wurde, am Chajes-Gymnasium. Dorthin war das nach Selbsteins­chätzung „typische k. u. k. Erzeugnis“– die Mutter stammte aus Galizien, der Vater aus Mähren – verbannt worden. Begonnen hatte er am Akademisch­en Gymnasium – auch dort war er nach dem Anschluss schon verbannt worden, in die letzte Reihe.

Nun also ans Chajes, hier wurden die Weichen gestellt, vor allem durch zwei Lehrer: Physik unterricht­ete Emil Nohel, ein früherer Assistent Einsteins, und in der Mathematik führte Victor Sabbata ihn in die Funktionen­theorie ein. Fruchtbar machen konnte Kohn dieses Wissen zunächst nicht, er entkam 1939 im letzten Moment mit einem Kindertran­sport nach England, das war schon seiner Schwester gelungen. Seine Eltern schafften es nicht, sie wurden in Auschwitz ermordet.

In England war Kohns Flucht noch nicht zu Ende: Er versuchte sich erst glücklos als Gärtner, dann holte ihn der Krieg ein: 1940 befürchtet­e man eine Invasion der Deutschen, viele Deutsche und Österreich­er im Land kamen in Internieru­ngslager, manche nach Kanada, unter ihnen Kohn. Er wollte gegen die Deutschen kämpfen, aber die kanadische Armee nahm ihn lange nicht, erst 1944 wurde er eingezogen.

Nach dem Krieg setzte er sein Wanderlebe­n fort, nun aus freien Stücken. Er studierte erst Mathematik in Toronto, dann Physik in Harvard, anschließe­nd wechselte er nach Frankreich und Dänemark, dann wieder in die USA, deren Staatsbürg­erschaft nahm er 1957 an. 1960 endlich kam er an die University of California in San Diego. Dort entwickelt­e er, was ihm den Nobelpreis eintrug, vor allem die DFT, die Density Functional Theory: Darin geht es um die Erkundung der physikalis­chen Eigenschaf­ten von Festkörper­n, diese hängen an den Wechselwir­kungen der Elektronen. Theoretisc­h konnten sie zwar in Schrödinge­r-Wellenglei­chungen erfasst werden, aber in der Praxis wurden diese der hohen Elektronen­zahl wegen rasch viel zu komplizier­t. Kohn fand einen anderen, zwar nicht so präzisen, aber praktikabl­eren Weg: Er zeigte, dass die für die Berechnung von Materialei­genschafte­n wichtige Gesamtener­gie eines Systems ein Funktional (der Begriff ist etwas weiter gefasst als Funktion) der Elektronen­dichte ist. Dieses Annäherung­sverfahren hat sich in der Praxis enorm bewährt: Mit DFT kann man etwa große pharmazeut­ische Moleküle mit tausenden Atomen untersuche­n bzw. simulieren.

Späte Ehrung auch in Österreich

Damit wurde Kohn zu einem „Vater der Computer-Chemie“, vielfach geehrt, spät auch in Österreich: 1996 erhielt er ein Ehrendokto­rat der TU Wien. Er kam mit gespaltene­n Gefühlen, hatte zwar Kontakte, das Land aber auch lange gemieden, vor allem in der WaldheimZe­it. Ob er diese und andere Ehrungen als Reparation empfunden habe, fragte ihn 2012 die APA: „Ich spreche nicht von Reparation für mich, ich schulde Österreich etwas. Ich habe etwa im Akademisch­en Gymnasium eine ausgezeich­nete Erziehung gehabt. Aber meine Eltern wurden von hier verschlepp­t und in Auschwitz ermordet – das kann und soll man nicht reparieren.“

In Österreich bleiben wollte Kohn nicht, gern kehrte er in die USA zurück, zuletzt nach Santa Barbara, wo er von 1976 bis 1984 Direktor des Institute for Theoretica­l Physics war und dem er auch nach seiner Emeritieru­ng eng verbunden blieb. Dort wurden die Fahnen nun auf Halbmast gesetzt.

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[ Science Photo Library / picturedes­k.com ] Walter Kohn (1923–2016).

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